Molières Menschenfeind ist so ein Untoter, der ewig durch die internationalen Theater toben muss, der hier und da mal Tacheles redet und eigentlich ganz recht hat mit seiner totalen Ablehnung, der wohl schreiben, aber kaum positiv reden kann und sich dessen bewusst ist und es deshalb zu vermeiden sucht. Am Theater Bonn redet Alceste fast ununterbrochen, und ein grandioser Daniel Stock leiht ihm seinen Körper, der am Ende sogar Gunther von Hagens‘ Körperwelten entsprungen scheint. Ihn verfolgt im ersten Dialog eine wattierte Gewitterwolke, die blitzt und donnert und aus der es schüttet, denn Alceste gewittert selbst die bösen Worte in eine verlotterte Welt, in der das Arrangement zur Grundausstattung gehört, und diese schleimige Gesellschaft lehnt der Menschenfeind konsequent ab.
Nur eine versucht er daraus zu retten: Célimène (auch grandios: Annika Schilling) seine große Liebe. Doch die ist seine Archillesferse, sein Blatt auf Siegfrieds Schulter, denn die Schöne spielt das Spiel der Gegenwart sucht die verlogene Aufmerksamkeit um jeden Preis. Regisseur Jan Neumann, sein Bühnenbildner Matthias Werner und die Kostümschneiderin Cary Gayler erschaffen aus der Hans-Magnus-Enzensberger-Fassung eine süchtige virtuelle Welt des Scheins, die Anpassung an jeden Scheiß verlangt und die Sprache nur noch zur Verwirrung nutzt. Die acht Protagonisten auf Speed, in Dauerekstase und ganz nah an der Gegenwart einer weltweiten Smartphone-Diktatur, nehmen sich dafür alle Freiheiten, nehmen dem Molière manchen Reim, zelebrieren Party und die letzte Unverschämtheit und geben so dem Publikum das Gefühl sich fragen zu müssen, wo zum Teufel sind die 350 Jahre geblieben und wo war die geistige Evolution? Im plötzlich auftauchenden goldenen Bällebad (genial) ist sie bestimmt nicht versteckt.
Man lügt nicht, wenn man liebt. Diesen Kernsatz nehmen alle nach der Pause in die zweite Halbzeit mit. Das rauschende Fest ist vorbei, Alceste ringt mit der Obrigkeit, das Konfetti wird mit Laubpustern weggeblasen. Ich mutierte in der Pause zu Célimènes Bodyguard, denn die Schauspieler mischen sich in dieser Inszenierung gern unters Volk, aber es wird glücklicherweise kein Mitmachtheater. Was folgt ist ein Catwalk der Freaks und die Erkenntnis: Sweet dreams are made of this. Dem gehäuteten Alceste hilft die Einsicht wenig.
„Der Menschenfeind“ | R: Jan Neumann | 25.12., 13.1. je 18 Uhr, 5., 19., 23.1. je 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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