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Peter Pan unter den Rädern

18. März 2010

17jährige Autorin schreibt über Jugend zwischen Kunst und Heroin - Literatur-Portrait 03/10

Elf Jahre nach Benjamin Lebert hat die Literaturszene ein neues Wunderkind: Die 17jährige Helene Hegemann legt mit „Axolotl Roadkill“ ihren ersten Roman vor. Wie Lebert ist auch Hegemann eine Schulabbrecherin, Ihr Roman eine Aufarbeitung von Jugend und Pubertät, von Grenzerfahrungen auf dem Weg ins Erwachsensein. Doch anders als Lebert ist Helene Hegemann nicht plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht: Schon 2007 wurde das Theaterstück „Ariel 15“ der damals 15Jährigen im Berliner Ballhaus Ost uraufgeführt, kurz darauf folgte eine Hörspieladaption des Deutschlandradios. 2008 mischte Hegemann die Filmszene auf, als ihr Drehbuch- und Regiedebüt „Torpedo“ Premiere feierte. Der Film wurde mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet und lief bundesweit in den Kinos. Das Drehbuch schrieb sie bereits mit 14. In dem Episodenfilm „Deutschland 09“ spielte sie eine der Hauptrollen im Beitrag von Nicolette Krebitz. Nun also der Wechsel ins literarische Fach: „Ich hatte Lust darauf, mich den Figuren, über die ich etwas berichten will, auf eine andere Form zu nähern. Nachdem ich mit dem Schreiben begonnen hatte, habe ich über eine Literaturagentin einen Verlag gefunden.“

Von Bochum nach Berlin

Im Stück, im Film und auch ihrem Roman gibt Hegemann ihre Stimme einem Teenager, der nach dem Verlust der Mutter nach neuen Orientierungspunkten in seinem Leben sucht und mit der Erwachsenenwelt in Konflikt gerät. Die linke Kulturszene Berlins bietet Reibungsfläche en masse für den Findungsprozess ihrer Protagonistinnen. Hegemann selbst ist im Alter von 13 Jahren nach dem Tod der Mutter von Bochum nach Berlin gezogen. Die Bochumer Zeit hat sie in keiner guten Erinnerung: „Irgendwie hat mich diese Stadt nicht leben lassen.“ Den Umzug nach Berlin empfindet sie als Befreiungsschlag: „Ich habe gemerkt: Ich bin nicht verrückt, ich bin nur in der falschen Umgebung groß geworden.“ Immerhin lastet sie dieses Gefühl nicht unbedingt der Stadt als solcher an, schließlich handelte es sich bei dem Umzug nach Berlin nicht nur um einen schlichten Ortswechsel, sondern um einen wirklichen Bruch im Leben: Helenes Vater Carl Hegemann ist zu der Zeit Chefdramaturg an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Da ist es nicht verwunderlich, dass das bunte Treiben inmitten der Hauptstadt-Boheme mehr Eindruck hinterlassen hat als die Kindheitsjahre in Bochum … Auch wenn ihre Hauptfiguren Parallelen zur Autorin zeigen, weist Helene Hegemann jegliche autobiographische Deutung entschieden von sich: „Ich frage mich wirklich, warum sich Leute das Recht rausnehmen, mir zu unterstellen, es ginge da um mich. Es ist Fiktion und ein nach üblichen Standards entwickelter Unterhaltungsroman, in dem ich allgemeine Themen verhandeln konnte, die mich zu diesem Zeitpunkt beschäftigt haben.“ – Das beruhigt ungemein, denn was die junge Autorin den Lesern zumutet, ist schon harte Kost: Drogen, Sex und Gewalt sind die Konstanten in diesem Roman, der provokant Geschmacksgrenzen auslotet. Doch wo eine Charlotte Roche sich mit talentloser Fäkalprosa dank Medienhypes zur Leitfigur eines ungewaschenen Neofeminismus aufschwang, gibt Helene Hegemann klar zu Protokoll: „Da steckt jetzt mit Sicherheit keine weltbewegende Neuigkeit oder irgendeine Moral drin. Mir hat es einfach Spaß gemacht, bestimmte Sachen auszudenken und die mit bestehenden Fragmenten aus Filmen oder Zeitschriften oder Büchern oder Geschichten aus meinem Umfeld zusammenzufügen.“

Berlin Psycho

Als ihre literarischen Vorbilder nennt Hegemann Philipp K. Dick, Ambrose Bierce, Ian McEwan oder auch Dostojewski. Ihr Roman zeigt allerdings deutlichere Anleihen bei William S. Burroughs. Dessen „Naked Lunch“ scheint Pate gestanden zu haben für so manch wilde Drogenrauschphantasie. Die Beiläufigkeit, mit der rohe und blutige Gewalt geschildert wird, erinnert hingegen zeitweise an „American Psycho“ – wobei die Filmemacherin Hegemann hierfür vielleicht auch cineastische Vorbilder aus dem Splatter-Genre ausgeweidet hat. Doch nicht etwa deshalb ist dieses Romandebüt so schwer verdaulich, es liegt vielmehr an der sprunghaften Episodenhaftigkeit, an den verwaschenen Grenzen zwischen Realität und Wahn. Dieses Lavieren an der Grenze zur Unlesbarkeit ist dabei Konzept: „Ich habe aber keine Ahnung, ob das ankommt, ob es funktioniert und in irgendeiner Art massenkompatibel ist.“

Auf Ecstasy an der Wursttheke

Auch wenn Helene Hegemann den Spaß betont, mit dem sie sich dem Schreiben genähert hat, und auch wenn sie mit Zitaten spielt, bewegt sich ihr Roman auf einer sprachlich sehr hohen Ebene, gespickt mit Fremdwörtern und Anspielungen. Der titetlgebende Axolotl zum Beispiel ist ein mexikanischer Lurch, der laut Wikipedia sein gesamtes Leben im Larvenstadium verbringt, also nie erwachsen wird – und dennoch Geschlechtsreife erlangt, womit der Bogen zu Mifti, der Protagonistin in Hegemanns Roman, geschlagen ist. Mifti ist 16, seit dem Tod ihrer Mutter lebt sie bei ihren älteren Halbgeschwistern in Berlin. Sie schwänzt die Schule, konsumiert Drogen aller Art und ist mit der 46jährigen HIV-positiven Fotografin namens Ophelia zusammen. Ihr Leben abseits der Schule spielt sich in den Szenen zwischen Kultur und Marketing ab, nach der Vernissage geht es zum „Abspasten“ in angesagte Clubs. Aus dieser Welt nährt sich ihr Vokabular, was in manchen Dialogen arg angestrengt wirkt. Sätze wie „… kannst du bitte wieder rausgehen, ich möchte mich momentan auf unseren inakzeptablen Zustand als solchen konzentrieren“ klingen nicht wirklich wie aus dem Leben gegriffen. Hegemann selbst spricht allerdings in Interviews tatsächlich so. Wohlstandsverwahrlosung und Ambiguitätstoleranz sind Begriffe, die ihr am Herzen liegen, Heroin sieht sie als „Metapher“. Aufgrund seiner schonungslosen Direktheit wird „Axolotl Roadkill“ in diesem Frühjahr einen ziemlichen Hype erfahren. Dennoch will sich die Autorin demnächst wieder dem Medium Film zuwenden – beim Schreiben fehlt ihr das direkte Feedback eines Teams, es hat in ihren Augen etwas Autistisches. Auch wenn man sicher sein kann, dass ihr nächstes Werk, egal in welchem Medium, wieder mit enormen Vorschusslorbeeren bedacht wird, hat sie die Bodenhaftung nicht verloren: „Wer weiß, in drei Jahren arbeite ich wahrscheinlich an irgendeiner Fleischtheke und frage mich, wie das passieren konnte.“

Helene Hegemann:
Axolotl Roadkill
Ullstein Taschenbuch I 14,95 Euro

Frank Schorneck

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