Das Konzept des Schlafkonzertes klingt paradox. Schließlich sind Konzerte in der Regel etwas, dem wir für eine bestimmte Zeitspanne unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. Mit dem scheinbar geistesabwesenden Schlafzustand will das erst einmal nicht zusammenpassen. Tatsächlich aber erklärt sich das Ganze schnell, wenn wir betrachten, dass es eben nicht um tiefen Schlaf geht (wobei auch dieser natürlich jederzeit erlaubt ist!), sondern vorrangig um den sogenannten hypnagogischen Zustand. Jene kognitive Phase also, welche zwischen Wachsein und Schlaf liegt; die Zwischenwelt des Bewusstseins, das Hinübergleiten, das Ein- und Auftauchen. Zurückzuführen ist diese besondere Konzertform auf den Musiker und Schlafforscher Robert Rich, der die Hypnagogia als Zustand erkannte, in welchem wir besonders zugänglich sind für freie, vom überstrukturierten Gehirn unzensierte Gedanken und Assoziationen. Um das kreative Potential dieses Moments intensiv nutzen zu können, bieten sich (ein)schlafbegleitende Musiken, Melodien und Tonkompositionen besonders an. Doch mit reiner Ambient Music ist es für den Veranstalter nicht getan: Heinrich Lenz beschäftigt sich seit geraumer Zeit im wissenschaftlichen als auch performativen Kontext mit besonders langen Musikformen bzw. Schlafkonzerten und hegt den Anspruch, nicht nur Klangkunst in verschiedenen Formen einzubeziehen, sondern die musikalische Performanz den gegebenen physischen Räumlichkeiten anzupassen. Die Locations werden daher vorab besichtigt, um die spezifische Akustik sowie eventuelle Umgebungsgeräusche ausloten und einarbeiten zu können. Eine Kirche mit ihrer besonderen Architektur und Atmosphäre bietet dahingehend natürlich ein außergewöhnliches Umfeld und lädt, so Lenz, besonders dazu ein, die Art des Wahrnehmens und Hörens zu verändern.
Individuelles Erleben
Eine Erweiterung der Perzeptionsmöglichkeiten durch (ein)schlafbegleitende musikalische Erlebnisse also – soweit zur Theorie. Was aber erwartet die Teilnehmenden in dieser außergewöhnlichen musikalischen Praxis? Es liegt in der Natur offener, subtiler Musikformen, dass das Erleben eines solchen Schlafkonzertes sehr individuell und unterschiedlich ist. Das Setting – die Räumlichkeiten, die anderen Besuchenden, die Musiker und Musiken – all dies bietet Möglichkeiten der Wahrnehmung an, zwingt aber nichts auf. Und das spiegelt sich auch im Erleben der Teilnehmenden wider; viele richten den Blick nach innen, entspannen oder meditieren, andere lassen den Gedanken freien Lauf und manch einer schläft einfach sehr tief und traumreich.
Der 31-jährige Veranstalter setzt die ganznächtliche musikalische Darbietung natürlich nicht alleine um. Stets begleitet ihn eine möglichst heterogene Crew. In diesem Fall besteht sie aus den Künstlern Anne-Chris Bakker, Roberto Beseler und Jordan White. Deren verschiedene Performances offerieren den Hörenden unterschiedliche Klangwelten, um die sich im Halbschlaf bietende Chance zu nutzen, „mit neuen Ohren zu hören“, so Heinrich Lenz. Das angenehme „alles kann, nichts muss“-Prinzip dieses Konzertkonzepts setzt somit den Rahmen für eine subjektive, sicherlich entspannte und womöglich völlig neue Musikerfahrung.
Lucidity Music | 23.4. 22 Uhr | St. Gertrud Kirche Köln | www.heinrichlenz.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nicht alle sind supersympathisch
(Kinder-)Geburtstags- und Weihnachtsfeiern on Stage – Unterhaltungsmusik 12/24
Befreiung durch Verwandlung
Laura Totenhagen im Stadtgarten – Musik 11/24
Zurück zur Straßenmusik
Dan & Dota in der Kantine – Musik 11/24
Noise, Rap und Migration
Zwischen Bühne und Buchdeckel – Unterhaltungsmusik 11/24
Endlich Wochenende
13. Week-End Fest im Stadtgarten – Musik 10/24
Psychedelische Universen
Mother‘s Cake im Helios 37 – Musik 10/24
Aggressive Dringlichkeit
Internationale Acts von Rock über Hip Hop bis Avantgarde – Unterhaltungsmusik 10/24
Eine Party für die Traurigen
Romie in der Maulvoll Weinbar – Musik 09/24
Heftiger Herbstauftakt
Nach Open Air wieder volles Programm in Clubs und Hallen – Unterhaltungsmusik 09/24
Kein Bock auf Sitzkonzert
Mdou Moctar im Gebäude 9 – Musik 08/24
Sommerloch? Nicht ganz ...
Volle Packung Drum‘n‘Bass, Indie, Tuareg-Blues und Black Metal – Unterhaltungsmusik 08/24
Fette Beats im Wohngebiet
Green Juice Festival 2024 in Bonn – Musik 07/24
Vielfalt, Frieden und Respekt
3. Ausgabe von Shalom-Musik.Koeln – Musik 07/24
Die Ruhe im Chaos
Emma Ruth Rundle in Köln und Bochum – Musik 07/24
Helldunkler Sommer
Fröhlich und finster lockt die Festivalzeit – Unterhaltungsmusik 07/24
Und der Tag wird gut
Suzan Köcher‘s Suprafon beim Bonner Museumsmeilenfest – Musik 06/24
Wie im Moment entstanden
Waxahatchee im Gebäude 9 – Musik 06/24
Folklore-Crossover
Wundersame Mischungen im Konzert – Unterhaltungsmusik 06/24
Sehnsucht nach Nähe
Nichtseattle im Bumann & Sohn – Musik 05/24
Gesang mit Starqualität
Aka Kelzz im Yuca auf der Kölner c/o Pop – Musik 05/24
An der Front: Sängerinnen
Post Punk neu arrangiert und interpretiert – Unterhaltungsmusik 05/24
„Der Jazz wird politischer und diverser“
Jurymitglied Sophie Emilie Beha über den Deutschen Jazzpreis 2024 – Interview 04/24
Überbordende Energie
Dead Poet Society live im Luxor – Musik 04/24
In alter Blüte
Internationales Line-up beim Kunst!Rasen Bonn 2024 – Festival 04/24
Kleinteilige Tonalität
Das Festival „Acht Brücken“ erforscht die Zwischentöne – Festival 04/24