Jetzt sagen Sie nicht, das alte Jahr ist wieder vorbei, und das neue hat angefangen. Man kommt ja gar nicht mehr mit mit den Ereignissen. Da wird einem schon mulmig, wenn man an die Zukunft denkt. Weiß man, was man alles verpassen wird in den nächsten zwölf Monaten? Schließlich dreht sich alle Welt immer schneller um sich selbst, von den „Märkten“ ganz zu schweigen – Nanosekunden als Maßstab. Trotzdem trifft man immer wieder auf alte Bekannte. In Gesellschaft und Politik kommt das Neue meist daher wie das Nachmittagsprogramm im Fernsehen. Immer dieselben Darsteller, immer die gleichen Stories, aber welch eine Geschwindigkeit.
Zack! Da hat sich doch ein gewisser Guttenberg nach neun Monaten rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft wieder in die Medien gebeamt. Die Gläubigen sammeln sich schon und hoffen auf seine endgültige Auferstehung irgendwann um Pfingsten herum. Oder: Rechtzeitig zum ersten Advent war ausgerechnet auf der 200-Jahrfeier der nordrheinwestfälischen Firma Krupp wieder die Rede vom „moralischen Kapitalismus“, und dass „der Zweck der Arbeit das Gemeinwohl“ ist. Ja, ja, die Firma Krupp, Waffenschmiede des Reichs, mit dem Führer paktiert und jüdische Zwangsarbeiter ausgepresst, danach zügig die Mitverantwortung im NS-System bestritten und schließlich als „mildtätige Geste“ den Überlebenden eine kleine Entschädigung ohne Rechtsanspruch gewährt. Immer auf Höhe des Zeitgeistes.
Jahresanfang …
Der vergangene Januar hatte es überhaupt in sich. Die Klage über die „Diktatur der internationalen Finanzmärkte“ wurde auf Dauer gestellt. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund erwartete für das neue Jahr bei den Kommunen wieder einmal ein Milliardendefizit – diesmal sogar zweistellig. Das Paradox: Kassenkredite werden immer billiger. Im Deutschen Bundestag waren die braunen Verstrickungen eines deutschen Geheimdienstes Thema. Nein, es ging nicht um den Verfassungsschutz (VS), das war erst Ende des Jahres der Fall. Jetzt stand der historische Rückblick auf „Eichmann, den BND und die Organisation Gehlen“ auf der Tagesordnung.Ganz unbefangen verwahrten sich die Vertreter von CDU/SPD unisono dagegen, den Bundesnachrichtendienst in diesem Punkt „ins Zwielicht zu rücken“. Dass BND und Bundesregierung Eichmanns Aufenthaltsort mindestens seit 1952 geheim hielten, dass der BND alte Nazis mit neuen Identitäten ausgestattet hat und Massenmörder wie den Ex-SS-Offizier Walther Rauff auf der Payroll führte, sollte auch 2011 nicht zum „BND Bashing“ missbraucht werden dürfen. Ironie der Geschichte: Im April bestellte der BND eine Kommission, die seine Geschichte aufarbeiten soll – mit dabei der Kölner Historiker Jost Dülffer. Was veröffentlicht werden darf, möchte allerdings der Geheimdienst entscheiden. Im November wurde bekannt, dass BND-Akten mit NS-Bezug bereits 2007 geschreddert wurden. Gutes Timing. Parallel dazu flammte der Streit auf, ob der deutsche Sicherheitsapparat nicht grundsätzlich auf dem „rechten Auge“ blind ist. Anlass waren und sind die aktuellen Verstrickungen des VS in die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Eine gewisse Traditionslinie ist schon erkennbar: BND wie VS hatten/haben echte Nazis auf der Gehaltsliste. Ironie dieser Geschichte: 2003 hat das Bundesverfassungsgericht das Verfahren zum Verbot der NPD wegen der engen Verflechtungen von NPD und VS eingestellt. Inzwischen deutet sich an, dass Neonazis ihrerseits vielleicht sogar die hessische CDU „infiltriert“ haben. Der Gag am Rande: Der VS Hessen wollte zeitgleich auf einer Fachtagung über den „Kommunismus – Renaissance einer politischen Ideologie?“ debattieren.
Und kein Ende …
Im Herbst dauerte die Klage über die „Diktatur der internationalen Finanzmärkte“ an. Frank Schirrmacher mutmaßte in der FAZ, die Linke könnte doch Recht haben mit ihrer Behauptung, das politische System diene nur den Reichen. Ein paar Wochen später entdeckte er ein „herrliches und hilfreiches Buch“ mit Bestsellerpotential aus den USA. Das Werk über „Schulden“ ist von einem Anthropologen verfasst und beschäftigt sich mit der Rolle des Geldes in den menschlichen Gesellschaften seit ihren Anfängen. Nach der Lektüre weiß Frank: „Geld ist nicht eine ‚Sache‘ mit einem immanenten Wert, sondern es beschreibt nur das Verhältnis zwischen Dingen von Wert.“ Irgendwie erinnert das an frühe Analysen von Karl Marx, einem Philosophen, der kurzzeitig auch in Köln aktiv war. Apropos Dinge von Wert: Erinnern Sie sich noch an Stéphane Hessel? Letzten Januar rief der große alte Mann uns allen sein „Empört Euch“ zu und befand, „Schöpfung ist Widerstand. Widerstand ist Schöpfung." Hessel war auch kurz in Köln zu Gast. Und kaum zu glauben angesichts der medialen Präsenz und der zwischendurch auch schon mal verfassten Nachrufe: „Occupy Wallstreet“ startete erst am 17. September des vergangenen Jahres. In diesen Wochen begann auch die Kampagne „Europa vs. Facebook“, die in Irland gegen den permanenten Datenmissbrauch dieser globalen Werbeagentur klagte (Al Jazeera berichtete). Möglich ist das, weil die Firma clever, clever einen Teil ihrer Geschäfte auf der Insel abwickelt. Der anfallende Steuersatz liegt dort gerade mal bei 2,4 Prozent. Geht auch in den USA nicht billiger.
Ist sonst noch was? Facebook geht an die Börse. Fukushima strahlt weiter. Der deutsche Atommüll-Berg wächst. Der Klimawandel schreitet voran. Der FC kriselt ebenso wie der Euro auch in 2012. Die Altersversorgung von Politikern und Normalbürgern driftet immer mehr auseinander. Die Kölner Stadtverwaltung brütet über ihrem nächsten Flop. BAP is back. Kaum wirkliche Überraschungen in Sicht. Den Spruch für 2012 verdanken wir diesmal einem katholischen CSU-Politiker: „Was heute falsch ist, kann in ein, zwei Jahren richtig sein.“ Hätte auch ein Rheinländer nicht besser ausdrücken können.
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