Ein schwarzer Kreis „strahlt“ mitten auf dem Bühnenboden, um ihn herum ein heller Lichtring – beide ansonsten von tiefer Dunkelheit umrahmt. Das ist der „Ort“, um den sich in der Produktion „Untiefe“ von Physical Artist Jan Jedenak und Regisseur Jonas Klinkenberg alles dreht. Und „drehen“ ist hier wörtlich zu verstehen. Denn man kann hier mit Fug und Recht von einer „gleißenden“ schwarzen Sonne sprechen, die im Zentrum des Spiels steht und an die sich Jan Jedenak zunächst liegend anschmiegt – quasi am Ufer einer tiefen Verlockung oder Bedrohung.
Die schwarze Sonne ist seit der Romantik (Heine, de Nerval) eine Metapher für die Melancholie. Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva hat ihr in den 1990ern eine Untersuchung gewidmet und ihre Verbindungen zum Narzissmus und zur künstlerischen Imagination untersucht. Nicht weiter verwunderlich, dass Jan Jedenak sich mit beiden Armen auf den weißen Ring stützt und mitten hinein in die Düsternis blickt, die ihnmagisch anzuziehen scheint. Assoziationen an die berühmten Narziss-Darstellungen vonCaravaggio und Dali werden geweckt. Dochdie Figur vollzieht nicht das, was man mit P!NK als „Trustfall“ beschreiben könnte, dieses vertrauensvolle Kopfüber – und sei es in die Tiefen der Verzweiflung. Die Figur verharrt, kauert, räsoniert, und sehnt sich vor allem nach einem: dem Licht.
Immer wieder dreht sich der Kopf nach oben in den Lichtkegel. Wie auch immer man dies interpretiert, ob als symbolische Ordnung im Sinn Kristevas, als weiße Sonne der Erkenntnis, als Ichwerdung – diese Hinwendung bleibt vorläufiger und ambivalenter als noch in Jan Jedenaks früherer Produktion „Madragora“, in der sie als Erkenntnis- und Entwurzelungsvorgang beschrieben wurde. Der erste Blick ins Licht formuliert ein Blendungs- und (christlich bestäubtes) Opfer-Narrativ aus: Die Figur starrt in den Scheinwerfer und legt dann die eigenen Handflächen, auf denen zwei schwarze Male zu sehen sind, über die Augen. Später sitzt sie als glatzköpfiger, puppenhaft-kindlicher Greis mit ausgetreckten Beinen neben dem Kreis, dreht sich mehrmals in den Lichtkegel und sackt wieder zusammen. Ein Sisyphos, der sich nach der weißen Sonne sehnt, aber der schwarzen Sonne verhaftet bleibt?
„Untiefe“ ist ein Abend, der beständig zwischen Zitat und Ritual changiert und mit einem hohen Anteil an symbolischen Verweisen arbeitet. Man sieht zwei wild gestikulierende Hände, mal scheinen sie Klavier zu spielen, mal zu dirigieren, mal nur herumzufuchteln – zwischen beiden ein blickdichter Wasserfall aus langen Haaren, kein Gesicht, nirgends. Und schließlich ein Auftritt, bei dem Jan Jedenak einen Hummerkopf plus Regenschirm trägt – was an alte Stillleben und die Mahnung an die Vergänglichkeit des Luxus denken lässt. Ein eindeutiger Sinn lässt sich allerdings nicht herauspräparieren, wie überhaupt die Produktion viel Raum für eigene Interpretation lässt. Aber was sonst ist Kunst, wenn nicht genau dieser Raum, in dem wir Dinge anders sehen können – auch wenn wir dabei mal danebenliegen?
Untiefe | R: Jonas Klinkenberg, Jan Jedenak | weitere Termine im September 2023 | TanzFaktur | 0221 22 20 05 83
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Tanzen, auch mit Prothese
Inklusive Tanzausbildung von Gerda König und Gitta Roser – Tanz in NRW 01/25
Die Erfolgsgarantin
Hanna Koller kuratiert die Tanzgastspiele für Oper und Schauspiel – Tanz in NRW 12/24
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Schussbereite Romantik
„Der Reichsbürger“ in der Kölner Innenstadt – Auftritt 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Freude und Bedrückung
35. Vergabe der Kölner Tanz- und Theaterpreise in der SK Stiftung Kultur – Bühne 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Lang lebe das Nichts
„Der König stirbt“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/24
„Andere Realitäten schaffen“
Dramaturg Tim Mrosek über „Kaputt“ am Comedia Theater – Premiere 12/24
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24