Um zu verstehen, wie der Wald zum Mythos werden konnte, muss weit in der Zeit zurückgegangen werden. Zum einen bis hin zu Tacitus und seiner Germania, die der Historiker rund um das Jahr 100 verfasste. Einem Werk, in dem er die Barbaren beschrieb, die dort droben in den Urwäldern des Nordens frank und frei lebten und nichts von den Segnungen der Pax Romana wissen wollten. Nichts wissen wollten von Straßen, Handel und urbanem Leben, von Theatern, Spielen, fließend Wasser und Bädern. Tacitus wollte dieses Waldvolk, ein wildes, unzivilisiertes Volk, dem zivilisierten Römer nahebringen.
Seine volle Wirkung entfaltete die Germania als Ursprungsmythos aber rund 1700 Jahre später, just in dem Land, in dem die mittlerweile ebenfalls zivilisierten Nachfahren jenes Waldvolkes lebten. Die Deutschen hatten weder ein geeintes Land, noch waren sie Nation, doch beides wünschten sie herbei. Die Romantik übernahm den Job, und richtete eine ganze Nation an den Bäumen seiner Wälder auf. Die fatale Voraussetzung der romantischen Geschichtsvorstellung ist der deutsche Waldmythos. Mit einer Kontinuitätsvorstellung über alle historischen Entwicklungen, über all die Kriege, sozialen Verwerfungen und technischen Revolutionen hinweg, unterstellt dieser Mythos eine Identität der Deutschen des Jahres 1800 oder 1920 mit den alten Germanen. „Wir erfahren von Tacitus, mit welch heiliger Scheu die Germanen ihre Wälder betraten. Noch heute wirkt die Stille oder das Rauschen der Bäume tief auf das Gefühl des Volkes ein“, schrieb noch in den 1920er Jahren ein Germanist. Die Romantik konnte aber auch anders. Stille und Rauschen in den Wäldern, übertönten Dichter wie Heinrich von Kleist oder Christian Grabbe in ihren Hermannschlachten mit Kriegsgeschrei. Hermann der Cherusker, der Proto-Deutsche sozusagen, wäre ohne Wald wohl nicht Sieger über, sondern Opfer von Varus’ Legionen geworden.
Das romantische Landschafts- und Waldgefühl war in den intellektuellen Eliten entstanden. Die waldnah lebende Bevölkerung auf den Dörfern konnte mit den forstgeschichtlichen und waldästhetischen Vorstellungen der Gebildeten zunächst nicht viel anfangen. Der Wald war für die bäuerliche Wirtschaft primär ein Nutzungsraum für Brenn- und Bauholz. Hinzu kamen diverse bäuerliche „Nebennutzungen“, wie Imkerei, Beerenpflücken und Harzzapfen. Die „Waldeinsamkeit“, die Ludwig Tieck zum „Schlagwort“ der Romantik gemacht hatte, wurde zunächst in den unteren Schichten keineswegs als heimelig und erholsam empfunden.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die nationalistische Vereinnahmung des Waldes richtig Fahrt auf. Die Liebe zu schönen, wilden Wäldern wurde zu etwas exklusiv Deutschem, zum Nationalcharakter. Ein intellektueller Kunstgriff machte aus den Deutschen im Gefolge der Germanen wieder das Waldvolk Europas. Mochten Engländer und Franzosen ihre Parks und Ziergärten lieben, die Deutschen hatten etwas Einmaliges, den deutschen Wald. Nicht allein die gemeinsame Geschichte machte die Schicksalsgemeinschaft Volk aus, sondern auch die Beschaffenheit des Bodens. Nach fast zweitausend Jahren halbwegs erfolgreicher Zivilisationsgeschichte in deutschen Landen prägte plötzlich wieder die natürliche Kraft rohen Volkstums den Kulturstil, statt der Ordnung der Zivilisation. Für Wilhelm Heinrich Riehl, einem der im 19. Jahrhundert führenden Waldideologen, ruhte in der Wildnis der deutschen Wälder nicht nur die völkische Vergangenheit der Nation, dort liege auch die Verjüngungskraft ihrer Zukunft verborgen. Von hier war es nur noch ein ideengeschichtlicher Wimpernschlag bis zur „Blut und Boden“-Ideologie der Nazis.
Mit der Stunde „Null“ hatten auch deutsche Mythen abgewirtschaftet. Doch selbst die Bundesrepublik, die lange ein gespaltenes Verhältnis zu Symbolen hatte, kam nicht ohne Bäume auf den neuen Münzen aus: Eichblätter auf jeder Münze vom Pfennig bis zum Markstück. Dass die Deutsche Mark schließlich zum eigentlichen Nationalsymbol der Westdeutschen wurde, hat was von einem historischen Treppenwitz.
In den 1980er Jahren schlägt der Gründungsmythos Wald schließlich in einen Untergangsmythos um. Die rasante Karriere und Verbreitung des Begriffs „Waldsterben“ ist ohne die Prägung der Romantik kaum erklärbar. Der sterbende Wald war unbestreitbar zur Metapher für eine weltweite Umweltkatastrophe geworden.
Heute ist der vom Sterben rekonvaleszierte Wald ein beliebter Ort der Naherholung – vor allem für Städter. Am Wochenende verlassen etliche Kölner mit Wanderschuhen und Rucksäcken ausgerüstet ihre Stadt und fahren zum Wandern – Spazieren träfe es eher – ins Bergische Land, ins Siebengebirge oder die Eifel. Nur das Wissen des Waldvolks ist mittlerweile verkümmert. Die wenigsten können vier oder fünf Bäume bestimmen, für die meisten ist jeder Nadelbaum eine Tanne.
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