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„Titus“ (Proben)
Foto: Ingo Solms

„Völlig wahnsinnige Racheaktionen“

30. März 2017

Tim Mrosek inszeniert in der Orangerie die Rachetragödie „Titus“ – Premiere 04/17

„Titus Andronicus“ ist der Paria im Werk Shakespeares. Ein Außenseiter, verachtet, diffamiert, geschmäht – schließlich widerwillig mit Verweis auf ‚dramaturgische Experimente‘ und die Tradition der Blut- und Rachetragödie in den Kanon aufgenommen. Das Stück ist ein Schlachtfest, wie es good ol‘ Will nie wieder angerichtet hat. Der ordnungsfixierte Titus tötet nach dem Feldzug den Sohn der Gotenkönigin Tamora. Als die „Barbarin“ zur römischen Kaiserin aufsteigt, spinnt die zusammen mit ihrem Lover Aaron eine Intrige. Sie lässt Titus’ Tochter Lavinia vergewaltigen und verstümmeln und verleumdet dessen Söhne. Im Gegenzug meuchelt der wahnsinnig gewordene Militär Tamoras Söhne, macht daraus eine Pastete und setzt sie der Mutter vor. Ein Gespräch mit Regisseur Tim Mrosek, der die Schlachtplatte jetzt in der Orangerie anrichtet.

choices: Herr Mrosek, ist „Titus Andronicus“ das erste Splattermovie der Theatergeschichte?
„Titus“ ist lange so wahrgenommen worden. In der Entstehungszeit gab es das Genre der Rachetragödie, das Shakespeare mit dem „Titus“ auf die Spitze getrieben hat. Gleichzeitig hat er vieles ausprobiert. Formal ist es sicher nicht so präzise wie spätere Stücke, was es aber auch interessant macht. Die extreme Gewalt sticht natürlich sofort ins Auge, das Rachebedürfnis der Figuren, das aus liberal-pazifistischer Sicht schwer verständlich, mit Blick auf die Zeitumstände aber sehr aktuell ist. Die Idee, Titus zu inszenieren, ist nach dem Attentat eines IS-Kämpfers auf Touristen im tunesischen Sousse entstanden. Da wurde deutlich, dass die vermeintliche Sicherheit im Urlaub dahin und dass die von der extremen Linken hergestellte Verbindung zwischen Tourismus und Terrorismus zynisch ist. Das hat sich in den letzten 18 Monaten durch Trump, Erdogan, Kaczyński, die sogenannte Flüchtlingskrise und die Vorgänge in Deutschland beschleunigt. Jetzt müssen wir uns eher entscheiden, welche aktuellen Bezüge wirnichtherstellen.

Die Gotenkönigin Tamora bittet um Gnade für ihren erstgeborenen Sohn, der von den Römern geopfert werden soll. Wie dünn ist der zivilisatorische Firnis, wenn aus einem Ritual ein Massaker werden kann?
Titus kehrt nach 40 Jahren beim Militär und 21 toten Söhnen als alt gewordener Kriegsveteran zurück, um sich auf sein Landgut zurückzuziehen. Er muss aber zunächst Entscheidungen über die staatliche Ordnung treffen. Zuerst die Opferung des Sohnes von Tamora, die ihn zuvor auf Augenhöhe bittet, Gnade walten zu lassen und nicht barbarisch, sondern zivilisiert zu handeln. Mit Titus‘ Antwort „Die he must“ kommt die ganze Rachemaschinerie in Gang. Im Grunde folgt er dabei den römischen Riten und der Familientradition.

Tamoras Bitte verkehrt das gängige Muster von Zivilisation und Barbarei: Wie barbarisch sind die Römer, wie zivilisiert die Goten?

Tim Mrosek
Foto: Niklas Schulz

ZUR PERSON
Tim Mrosek
studierte Literaturwissenschaften und Geschichte in Köln und Warwick. Er arbeitet als Dramaturg an der Studiobühne, als Dozent an der Theaterakademie Köln und als freier Regisseur. Seine Arbeiten waren mehrfach für den Kölner Theaterpreis und den Kurt-Hackenberg-Preis für politisches Theater nominiert.


Beide Kulturen unterscheiden sich nicht. Nur ist Tamora als Gefangene in einer anderen Position als Titus. Das ändert sich in dem Moment, als sie die Ehefrau von Saturninus und damit römische Kaisern wird. Titus ist zunächst in einer Position, dass er als alter Militär über die Geschicke des Staates entscheidet…

..was an die amerikanische Regierung erinnert…
Ja, mir ist allerdings wichtig, dass wir das Stück nicht als Allegorie auf die USA deuten. Da wünsche ich mir eine größere Allgemeingültigkeit. Der Trump-Handshake ist trotzdem auf jeden Fall drin. Nach dem Opferbefehl begeht Titus den zweiten Fehler, als er Saturninus zum Kaiser macht.

In den 1980er Jahren ist „Titus“ stark durch die antikolonialistische Brille gelesen worden mit dem dunkelhäutigen Aaron als Rächer der „Dritten Welt“. Ist das heute noch aktuell?
Wenn man sich mit Aaron auseinandersetzt, muss man wissen, wie Rassismus zu Shakespeares Zeiten funktioniert hat, was er mit der Figur macht und gleichzeitig wie wir heute damit umgehen. Wie steht es um die Besetzungspolitik und das Black-facing am Theater in unserer Zeit? Steckt in Aarons Anstiftung zur sexualisierten Gewalt an Lavinia nicht auch ein rassistisches Klischee, wenn man das verallgemeinert?

Wie geht die Inszenierung damit um?
Aaron bleibt für mich ein böser und gefährlicher Intrigant, ich nehme ihm aber seine schwarze Hautfarbe, weil ich die Gleichung schwarz = böse nicht so verkürzt auf der Bühne zeigen will. Wenn man Aaron von der Rassismusdrohung abkoppelt, bleibt eine unglaublich spannende Figur. Er ist der einzige, der nicht seine Kultur mitbringen kann; er schaut sich diese Gesellschaft an, die Römer diffamieren ihn als böse, also wird er böse.

Was unterscheidet ihn als Paria von den Goten?
Der Unterschied liegt in der Hautfarbe. Die wird bei uns thematisiert, aber nur am Beginn. Er begegnet Tamora auf Augenhöhe, beide sind intrigante Machtmenschen wie die Underwoods in „House of Cards“.

Wo siedelt die Inszenierung das Geschehen an?
In einem leeren Raum. Wir arbeiten mit Musik von Mahler, der Antilopengang, von Dschingis Khan oder Folkmusik, wir setzen choreografische Mittel ein. Es geht mehr um einen formalen Zugriff als eine historische Verortung. Es ist schwer und zugleich gefährlich, den Plot historisch festzulegen. Wir beschäftigen uns eher mit den Rache- und den Befehlsstrukturen oder auch mit dem Humor des Stücks.

Man landet bei den Hektolitern Blut und dem Gemetzel schnell in der Komik. Liegt darin nicht eine Gefahr der Verharmlosung?
Die ersten Gewalttaten kann man auf einer objektiven Ebene rechtfertigen als Staatsakt oder Strafe für den Regelbruch. Die folgenden Racheaktionen sind nur noch völlig wahnsinnig. Die Vergewaltigung Lavinias mit ihrer Verstümmelung, das Abschlachten der Söhne, der Kannibalismus – das ist grotesk, weil man es kaum ertragen kann, obwohl es das in der Realität gibt. Es geht nicht darum, dass man entspannt darüber lachen kann, es soll den Zuschauer treffen, ohne dass Grenzen des Geschmacks überschritten werden.

Bezieht sich die Inszenierung hauptsächlich auf Shakespeare oder auch auf die Versionen von Heiner Müller, Botho Strauß oder Dürrenmatt oder ähnliches?
Wir haben uns nach längerer Auseinandersetzung mit dem Stück doch wieder bei Shakespeare eingefunden, nehmen aber viele Gedanken aus den anderen Versionen mit auf. Dazu kommen selbst geschriebene Texte, die auf unseren Recherchen beruhen. Anders als bei bekannten Stücken wie „Hamlet“ oder „Othello“ muss man bei „Titus“ die Geschichte erzählen, weil sie kaum jemand kennt. Selbst in meiner englischen Shakespeare-Gesamtausgabe, die ich mir im Studium gekauft habe, ist das Stück nicht drin.

„Titus“ | R: Tim Mrozek | 4.(P), 6., 7., 8.4. 20 Uhr, 9.4. 18 Uhr | Orangerie | 0221952 27 08

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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