Die Nachkriegsmaus ist einer der besten wenn nicht der beste Film von Armin Maiwald. Er zeigt, wie der kleine Armin 1946 zur Schule geht, in Bayern. Das heimatliche Köln musste der Junge zuvor mit seiner Mutter und seiner Schwester verlassen. Es war nur noch ein Trümmerfeld. Der Vater war in den letzten Tagen des Krieges getötet worden. Armin musste zur Schule eine Tafel und einen Teller mitnehmen. Auf die Tafel schrieb er, vom Teller aß er. Essen und Bildung waren die Überlebensmittel für den Jungen. Beides bekam er in der Schule. Es gab nur einen Lehrer. Der unterrichtete alle Jahrgänge in einem Raum. Es gab kaum Papier. Alles musste auswendig gelernt werden. Armin Maiwald selbst ist kein Nostalgiker. Aber betrachtet man den Film, glaubt man, eine Ahnung davon zu bekommen, wie Schule auch funktionieren kann. Schließlich hat jene Schule einen Menschen geformt, der später mehreren Generationen dieser Republik die unterschiedlichsten Facetten unseres Lebens erklärt hat. Die Schülerinnen und Schüler von Armin Maiwald brauchen auch kein Papier. Sie brauchen keine Schulpflicht. Sie setzen sich jeden Sonntag freiwillig um halb Zwölf vor den Fernseher und staunen.
Die erzählende Methodik von „Die Sendung mit der Maus“ unterscheidet sich grundsätzlich von der der Schule. Noch immer müssen viele Schülerinnen und Schüler pauken und büffeln, obwohl das abgefragte Wissen inzwischen von jedem Smartphone abrufbar ist. Warum müssen 11-Jährige die Gebirge Asiens auswendig lernen? Wollen wir unsere Kinder zu guten Kreuzworträtsellöser erziehen? Das faktenmäßige Wissen auf diesem Planeten vermehrt sich ständig. Immer wieder muss daher hinterfragt werden, welches Wissen Allgemeinwissen darstellt und somit unbedingt gelernt werden muss. Oder müssen wir nicht viel mehr Wert darauf legen, unsere Kinder das Lernen zu lehren? Sogar konservative Lateinlehrer werden diese Frage bejahen, allerdings mit dem Argument, dass hierfür ihr Fach besonders geeignet sei. Latein schaffe Ordnung im Hirn, so eine verbreitete Binsenweisheit. Gedichte auswendig lernen auch, werden manche Deutschlehrer ergänzen. Algebra sei charakterbildend, werden manche Mathelehrer ergänzen. All diese bekannten Argumente gehen davon aus, dass die Kinder und Jugendlichen motiviert sind oder, wenn sie das nicht sind, eben scheitern. Latein, Gedichte oder Algebra zu lernen macht aber nur einer sehr kleinen Minderheit an unseren Schulen Spaß. Nur dann, wenn die Lehrenden bei den Lernenden Neugier wecken können, gelingt Unterricht. Die Frage über Erfolg und Misserfolg des Lernenden wird eben auch und oft in erschreckend hohem Maß von der Qualität und der Persönlichkeit des Lehrers entschieden.
Die Vermittlung von bloßem Wissen stößt nicht nur Jugendlichen sauer auf. Wilfried Bos, Professor für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund, kritisiert offen die Kriterien, nach denen die PISA-Studie Jugendliche bewertet. „Die OECD als Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die PISA in Auftrag gibt, ist daran interessiert, Humankapital noch effizienter zu machen, damit man es noch wirtschaftlicher einsetzen kann. Aber ist das das Ziel von Schule?“ Er persönlich findet, dass die eher „weichen“ Fächer wie Kunst, Musik, Religion und Ethik ebenfalls wichtige Bestandteile des Lehrplans werden. Diese allerdings fragt PISA nicht ab. Es sei eben nicht nur wichtig, so Bos, Wissen zu vermitteln. Der kritische Umgang mit Wissen sei gerade in der Epoche der Informationsgesellschaft dringend geboten.
Ein anderes Schlagwort, das in schulpolitischen Diskussionen oft fällt, ist die Sozialkompetenz. Schon zu Zeiten von Professor Unrat wäre ein menschenfreundlicherer Umgang der Akteure an der Schule wünschenswert gewesen. Damals aber waren die mitwirkenden Gruppen homogener. Das Schulsystem war ein Abbild der Drei-Klassen-Gesellschaft. Der Bürgersohn war vom Proletensohn getrennt. Mädchen und Jungs waren voneinander separiert. Eine multiethnische Bevölkerungsstruktur, wie wir sie heute erleben, existierte damals nicht. Cornelia Gräsel, Professorin an der Bergischen Universität Wuppertal, sieht die aktuelle Heterogenität an unseren Schulen aber eher als Chance denn als Problem. „Diese Situation bietet beste Voraussetzungen, Wertemaßstäbe miteinander zu vergleichen, darüber zu sprechen, andere auch in ihrer Andersartigkeit zu verstehen. So kann viel soziale Kompetenz geschaffen werden.“
Es war in erster Linie nicht die Not, die damals im Klassenzimmer im tiefen Bayern aus Armin Maiwald den Kindergeschichtenerzähler der Nation formte. Es war, so erzählte er mir einmal, sein damaliger Lehrer, der Kinder unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters begeistern konnte. Vielleicht brauchen wir auch kleine, wild gemischte Klassen, die von wahren Lehrmeistern unterrichtet werden. Im PISA-Wunderland Finnland unterrichten hochbezahlte, gutausgebildete Fachkräfte kleine Klassen. Differenziert wird ab Klasse 6, Noten gibt es ab Klasse 8.
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