Als Rauchen noch in war, galt es als schick, zu Neujahr jeweils aufs Neue der Zigarette Lebewohl zu sagen. Meist hielt die Selbstverpflichtung trotz Nikotinpflaster nicht lange. Im ewigen Ranking der guten Vorsätze steht auch der Dreischritt „Ich will abnehmen“ – erstens –, deshalb zweitens mehr Sport treiben und drittens immer nur Gesundes essen (nie mehr Schokolade) ganz vorne. Beliebt ist seit langem das Bekenntnis zur Sparsamkeit, Banker natürlich ausgenommen. Schon immer wollten und wollen wirklich alle mehr Zeit mit Freunden und Familie verbringen, obwohl die klassische Familie allmählich verschwindet.Für das Jahr 2011 wollen die Älteren unter uns noch einmal versuchen, weniger fernzusehen – schließlich ist das Programm schlechter geworden. Für die Jüngeren ist TV eh kein Thema – aber wer von ihnen will schon auf sein Handy verzichten oder das Internet aufgeben. Trotzdem gibt es eine wirkliche Überraschung. In einschlägigen Umfragen bekennen aktuell knapp zwei Drittel der Befragten: Wir wollen in Zukunft Stress abbauen und/oder Stress vermeiden. Das katapultiert diesen stummen Schrei nach Hilfe nicht nur auf Platz Eins der frommen Wünsche. Es macht auch notwendig, uns kurz die Symptome von Stress vor Augen zu führen. Der entsteht, wenn wir eine Situation als unkontrollierbar, belastend oder gefährlich empfinden, wenn die Anspannung nicht nachlässt und sich Ängste ausbreiten. Auf Dauer gestellt zieht dieser Erregungszustand vielfältige Folgen nach sich, die von Kopfschmerz über Zähneknirschen und Übelkeit, Rastlosigkeit und Erektionsprobleme bis hin zum Herzinfarkt reichen. Noch schlimmere Dinge wollen wir erst gar nicht erwähnen. Dagegen hilft nur, Entspannung zu suchen. Oder sich zu entschleunigen, wie es neu-modisch heißt. Man soll sich dem Leistungsdruck nicht hingeben, rät der Berater. Versuchen, wieder mehr selbstbestimmt zu handeln – ob das dem Chef oder dem Lebensabschnittsgefährten passt? Jedenfalls hätten wir hier einen ersten Tipp parat: Regen Sie sich nicht über Kleinigkeiten auf! Auch Shoppen gehen kann kurzzeitig entlasten.
Planwirtschaft
Was dem Einzelnen der Vorsatz, ist dem Kollektiv die Planung. Der Jahreswechsel ist mehr als ein Anlass, sich daran zu erinnern, dass die großen Institutionen längst längere Zeiträume im Blick haben. Dabei ist auffällig oft das Jahr 2020 im Visier. Es scheint Phantasien und Visionen mächtig anzustacheln, nicht nur, was politische Programme betrifft. Schon vor fünf Jahren ließ das ZDF „junge Kreative“ u.a. aus Köln nach Antworten auf die Frage suchen, wie wir 2020 leben, lieben und arbeiten werden. Herausgekommen ist eine für den Sender verstörende „Agenda 2020“. Die Filme beschäftigen sich mit „Überflüssigem“, Fragen der Entschleunigung, mit der Verelendung im Alter und der ratlosen Frage nach „Inneren Werten“. Ist es da noch ein Wunder, dass sich inzwischen zwei Drittel der Werktätigen vorgenommen haben, ihren individuellen Stress einzudämmen? Aber auch sonst ist „2020“ hoch im Kurs. Die EU verspricht mit ihrem Programm „Europa 2020“ die Lösung aller Probleme. Eine „Agenda 2020“ erzählt, wie wir dann leben, und eine „Vision 2020“, wie Blinde bis dahin weltweit wieder sehen lernen werden. Und Köln? Köln hat sein „Leitbild 2020“ zur „aufgeschlossenen Wissensgesellschaft“, zum „lebendigen Kulturstandort“ oder der „dynamischen Wirtschaftsmetropole“. Nur die Vision der „Sportstadt“ soll schon 2015 umgesetzt sein. Dafür braucht das Konzept zur kölnischen Sicherheit etwas länger. Während in Sachsen oder Thüringen das Konzept „Polizei 2020“ bereits vorliegt, wird man am Rhein auf diese Zukunftsvision noch bis zum März 2011 warten müssen. Dafür gibt es seit längerem das „Leitbild: Kunststadt – Köln 2020“ des Kölner Kulturrats mit Handlungsoptionen und strategischen Positionierungen.
Sonst noch Wünsche?
Der Rheinländer gilt gemeinhin als lebenslustig und tolerant. Für die rheinische Toleranz gegenüber Minderheiten finden sich in der Vergangenheit wenige Belege. Ob sich das in Zukunft ändern wird? Aktuell ist von einer „Verrohung des Bürgertums“ zu lesen. Die mittlerweile im neunten Jahr betriebene Bestandsaufnahme der „Deutschen Zustände“ von Soziologen um den Bielefelder Professor Wilhelm Heitmeyer fördert Erschreckendes zu Tage. Allem Gerede vom bürgerschaftlichen Engagement zum Trotz haben die Ressentiments zugenommen. Von einer „Radikalisierung der Mitte“ ist die Rede und davon, dass sich rechtspopulistische mit islamfeindlichen Einstellungen „aggressiv aufladen“. Dazu passt, dass das „Exzellenzcluster Religion und Politik“ der Uni Münster/Westfalen ermittelt hat, dass die Islamophobie in Deutschland über der in anderen europäischen Ländern liegt. Pro Köln und kölnische Christdemokraten lassen grüßen. Für die Zukunft der „Bürgerstadt Köln“ sind damit viele Fragen aufgeworfen.
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