Etwas unsicher auf den Beinen betritt Martin Walser die Bühne des Klaus-von-Bismarck-Saals im Funkhaus des WDR am Wallrafplatz. Er trägt einen beigegrauen Anzug und hat eine kleine Plastiktüte dabei. Kaum hat er sich in den gepolsterten Lehnstuhl fallengelassen, greift er zu der Karaffe mit Weißwein auf dem Tischchen neben sich und schenkt sich ein. Walser ist zu Gast bei der phil.COLOGNE-Veranstaltung „Gibt es ein gutes Vergessen?“.
Die Moderatorin Svenja Flaßpöhler stellt ihn pflichtbewusst als „einen der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart“ vor, richtet ihre erste Frage aber an den anderen Gast des Abends, die Ägyptologin, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann: „Was ist überhaupt ein Gedächtnis?“ Aleida Assmann, die zusammen mit ihrem Mann Jan Assmann die einflussreiche Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“ entwickelt hat, gibt daraufhin eine kurze aber präzise Einführung in die Thematik, spricht von verschiedenen Formen des Gedächtnisses und der Physiologie des Gehirns. Doch als sie geendet hat und das Wort das erste Mal an Walser geht, wird schnell klar, wer die inhaltlichen Impulse des Abends liefern wird.
Flaßpöhler fragt Walser, ob seine Bücher so etwas wie sein Gedächtnis seien. Walser verzieht zunächst nur grimmig das Gesicht, lacht dann zynisch auf und fuchtelt mit den Armen in der Luft herum. Er lässt sich Zeit mit seinem ersten Wort des Abends, stockt, setzt drei Mal an und kurz befürchtet man, sein Alter zeige sich vielleicht schon nicht mehr nur an seinem Gang. Doch dann legt er los. In wenigen Takten schwillt seine Antwort zu einer Rede über seine katholische Kindheit, das Trauma des Beichtens und den Zustand der deutschen Moral an.
Das Publikum applaudiert diesem ersten Walser-Donner, und Flaßpöhler und Assmann ahnen bereits, dass sie entweder um ihr Recht zu reden werden kämpfen oder sich mit der Statistenrolle abfinden müssen. Aber Assmann, als verdiente Professorin eigentlich gewohnt, ein intellektuelles Gespräch zu führen, bleibt gelassen, selbst als Walser sie wegen eines Zitats seines Kollegen Arnold Stadler, das ihm nicht passt, zurechtweisen will. Sie antwortet ihm ruhig, dass Stadler selbst die Textstelle erst vor zwei Tagen vorgetragen habe, und Walser lenkt ein: „Dann nehme ich alles zurück!“
Hier wird deutlich, dass Walser vor allem eines ist: ein rhetorischer Routinier. Er provoziert, widerspricht, schreit, spricht viel über sich selbst und nennt Flaßpöhler konsequent Sonia statt Svenja, wenn er nicht nur „Du!“ sagt, doch das alles tut er aus der Ruhe seines Alters heraus und in dem Bewusstsein, dass er es gerade tut. Er weiß, wer er ist und was er von sich und den anderen zu erwarten hat. Darin liegt das Philosophische seines Auftritts, das auch dafür sorgt, dass ihm so etwas wie der Fauxpas mit dem falschen Vornamen von Flaßpöhler nicht peinlich ist. Im Gegenteil, er scheint sich über den entstehenden Bruch, über die Reibung mit den Konventionen zu freuen, und macht den falschen Namen den Rest des Abends zu einem weiteren seiner Spielchen.
Aber anders als Aleida Assmann, die selbst schon im fortgeschrittenen Alter ist und daher gut weiß, dass man einem selbstbewussten Bühnenmenschen besser nicht in die Parade fährt, kommt Flaßpöhler mit dieser walserschen Wucht nicht so gut zurecht. Dreimal versucht sie, ihm ihren Namen einzutrichtern, doch dann gibt auch sie es auf und überlässt Walser im Grunde gleich auch die Moderation. Er übernimmt sie gerne, geht nun hemmungslos auf all die Punkte ein, die ihn persönlich an dem Thema „Vergessen“ interessieren, und das ist vor allem seine eigene, konfliktbehaftete Vergangenheit.
Walser macht den Abend so sehr zu seinem Abend, dass er es am Ende ist, der Assmann anhand von Auszügen ihrer Bücher ihre eigene Theorie erklärt. Da er dies voller Bewunderung für ihre Thesen tut und sie in den höchsten Tönen lobt, lässt sie es sich gefallen, natürlich zum Teil gezwungenermaßen, denn Walser hat ihre Texte so gründlich studiert, dass er sogar die einzelnen Seiten auswendig kennt, auf denen ihre Sätze stehen. Dem scheint Assmann tatsächlich nicht mehr viel hinzuzufügen zu haben.
Der Abend endet bezeichnend. Flaßpöhler, halb staunende, halb ausgebootete Zuschauerin der Walser-Show, überwindet sich ein letztes Mal, eine ihrer vorbereiteten Fragen zu stellen. Doch es wird wieder nichts. Walser bügelt sie mit Verweis auf eine Stelle aus Assmanns Theorie ab und geht dann dazu über, wortreich das quasi noch unbekannte Werk des jüdischen Schriftstellers „Abramovich“ zu bewerben, den er zwischen Kafka und Swift ansiedelt und nun aktiv vor dem schlechten Vergessen bewahren will.
Zu guter Letzt scheint denn auch Flaßpöhler erkannt zu haben, wo Walsers Weisheit liegt: Nicht im Ausführen und Theoretisieren, sondern im Tun und im Lassen, denn ihre Abschlussfrage schenkt sie sich. Sehr weise!
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