Wenn die Philosophie einen Rockstar hervorgebracht hat, dann Friedrich Nietzsche: Nach streberhafter Jugend rebellierte er in mitreißenden, polarisierenden Werken gegen die Grundwerte des Abendlandes. Im Alter von 45 Jahren wurde er wahnsinnig und starb ein gutes Jahrzehnt später. Sein Satz „Gott ist tot“ kann als Motto der (Post-)Moderne gelesen werden und sein Einfluss auf die Kunst kaum überschätzt werden. Und auch an skurrilen Gerüchten fehlt es nicht: Die Syphilis, die später eventuell auch seinen Wahnsinn auslöste, soll er sich etwa bei einem unfreiwilligen Besuch eines Kölner Bordells eingefangen haben. Aber was ist die Essenz dieses Denk-Rebellen? Der Philosoph Wolfgang Buschlinger versuchte im Rahmen der phil.COLOGNE, diese Frage zu beantworten. Sein bündiges Fazit: „God is a DJ!“
choices: Herr Buschlinger, Sie bringen Nietzsches Weltanschauung auf die schlichte Formel „God is a DJ“. Wie muss man diesen Satz verstehen?
Wolfgang Buschlinger: Erstens: Du bist allein. Du wirst verletzt werden. Du wirst sterben. Gott ist tot. Es gibt also keinen überweltlichen Tröster. Es gibt kein Leben nach dem Tod. Schau diesen Tatsachen ins Gesicht, finde dich mit ihnen ab. Zweitens: In der Musik findest du Trost. Musik, so wie Nietzsche sie versteht, ist Text, Gesang, Rhythmus und Tanz. Von solcher Musik kannst du ergriffen werden. Lass dich von ihr ergreifen! Sie tröstet dich, weil sie die Zeit anzuhalten vermag. Sie tröstet dich, weil sie dich entgrenzt und dich dadurch mit der Natur in ihrer Rohheit vereint. Sie tröstet dich, weil sie dir sagt, dass das Leben trotz aller Widrigkeiten unzerstörbar mächtig und lustvoll ist. Drittens: Die Musik vermag deshalb auch dich anzutreiben. Durch die Musik wird dir klar, dass du es bist, der Dinge verändern kann, und dass du auf nichts hoffen musst oder darfst – außer auf dich. Viertens: Musik tritt an die Stelle Gottes. Musik inklusive des dazugehörenden „Tanzes“ ist das, was dem menschlichen Bedürfnis nach Gott am nächsten kommt. Folglich: Wenn es einen Gott gäbe, dann wäre er ein DJ – denn das, was er schüfe, wäre das, was die Menschen am nötigsten brauchen: Antrieb und Trost.
Demnach müssten Sie sich bei den Veranstaltern der phil.COLOGNE beschwert haben, dass keine philosophische Party auf dem Programm stand? Ihr letztes Nietzsche gewidmetes Musik-Beispiel, „God is a DJ“ von Faithless, hätte doch einen perfekten Übergang geschaffen.
Was Sie über den perfekten Übergang sagen ist richtig. Vorwürfe wegen einer verpassten Party mache ich allerdings höchstens mir selbst, weil die auch mir nicht in den Sinn gekommen war. Wie auch immer: Es macht wenig Sinn, verpassten Chancen nachzutrauern, wichtiger ist es, daraus die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Legen Sie deshalb Ihre Partykluft ruhig schon einmal für die nächste phil.COLOGNE bereit.
Nehmen wir an, man könnte Nietzsche für das nächste Festival als DJ buchen – was würde er Ihrer Meinung nach auflegen: Rock, Hip-Hop oder Elektro?
Hip-Hop – ganz klar! Und zwar wegen des großen Sprachanteils. „DJ Nietzsche“ wäre es egal, wie man die Töne und Geräusche der Musik erzeugt. Entscheidend ist für ihn ein hoher Anteil an Rhythmus, ein noch höherer Anteil an Sprache, dazu sprachlich dargestellte (Leidens-)Geschichte, und eine eingebaute und unwiderstehliche Aufforderung zum Tanz – dann wäre für ihn alles gut gerichtet.
Ich finde tatsächlich, dass Nietzsches eigene Texte bisweilen wie die eines selbstherrlichen „Battle-Rappers“ klingen. Das ist also kein abwegiger Vergleich?
Keineswegs, im Gegenteil. Nietzsche liebte die alten Griechen und verehrte sie. Deshalb wusste er natürlich besser als andere um ihre kämpferische Art. Die Griechen waren große Freunde von Wettkämpfen, sogar im Bereich der Komödien- und Tragödiendichtung. Und es ging ihnen im Wettkampf immer nur um eines: zu gewinnen. Wenn es heutzutage heißt „Dabeisein ist alles“, dann ist das modernes Wortgeklingel. Wer zur altgriechischen Olympiade antrat, machte das unter der Maxime: „Gewinnen ist alles, Dabeisein ist nichts.“
Drogen einmal außen vor, wie genau findet man denn in den rauschhaften, tröstenden Zustand, den Nietzsche „dionysisch“ nennt? Die Musik allein kann nicht ausschlaggebend sein, schließlich umgibt sie uns täglich, während wir dabei nur selten in einen Rausch geraten.
Da haben Sie Recht. Es reicht nicht, dass Musik einfach nur abgespielt wird. Bei der heutigen Allgegenwart von Musik müssten wir dann ja dauerberauscht sein. Offensichtlich sind wir das aber nicht. Der dionysische Zustand wird heutzutage wohl am ehesten durch den Begriff „Flow“ beschrieben. Um in einen Flow hineinzugeraten, muss man sich konzentrieren und darf nicht gestört werden. Das kann zum Beispiel beim Sport passieren. Mit Blick auf die Musik heißt „Flow“: Ein Kaufhaus, wo Musik zur Anregung der Kauflust abgespielt wird, ist eben kein Club. Im Club kann ich mich auf Musik einlassen und konzentrieren, im Kaufhaus gerade nicht, da bin ich permanent abgelenkt. Deshalb wird das nichts mit dem Musikrausch bei Karstadt.
Zum Abschluss noch eine Frage zur phil.COLOGNE: Auch wenn man sich in diesem Zusammenhang gerne auf Sokrates und den griechischen Marktplatz beruft, haben sich viele Philosophen, zeitweise auch Nietzsche, zum Nachdenken extrem zurückgezogen. Die Sache scheint dieses Opfer zu verlangen. Was heißt das bezogen auf das Festival phil.COLOGNE?
Nichts. Erstens erwartet niemand, dass eine/r sich auf der phil.COLOGNE hinstellt und einfach mal einen neuen „Zarathustra“ raushaut. Zweitens: Obwohl man tatsächlich oft am besten allein nachdenken kann, kann man neue Gedanken und Einsichten auch durch den Umgang und Austausch mit anderen haben. Außerdem ist es das eine, neue Gedanken und Einsichten zu bekommen, und das andere, sie in Ruhe zu überdenken. Warum sollte nicht beides möglich und notwendig sein? Manchmal ist es sogar notwendig, mit anderen zu sprechen. Zum Beispiel in ethischen Zusammenhängen, etwa der Sterbehilfe. Es wäre verwegen anzunehmen, ein Mensch könnte alleine auf alle Positionen kommen, die man in dieser an unzählige Schicksale geknüpften Frage einnehmen kann. Und selbst wenn es stimmte, dass sich viele gute Philosophen zum Nachdenken extrem zurückgezogen haben, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass man durch extrem zurückgezogenes Nachdenken ein guter Philosoph wird. Ich finde es übrigens hausbacken, sich auf Sokrates zu berufen. Er lebte vor über 2412 Jahren in einer heute so zu nennenden Kleinstadt, ging gerne auf den Marktplatz und hatte kein Internet. Das Hirntod-Kriterium war ihm auch unbekannt. Wir hingegen leben in einer modernen Gesellschaft mit ihren eigenen Problemen und Möglichkeiten. Deshalb sollten wir zeitgemäß philosophieren. Für alle genannten Aspekte ist die phil.COLOGNE gut.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Werk und Wert, Geld und Geltung
phil.cologne: Bazon Brock und Lambert Wiesing über „Kunst vs. Kunstmarkt“ – Spezial 06/17
Jetzt erst recht
„Quo vadis Europa?“ – Visionen von Ulrike Guérot, Karl Lamers und Claus Leggewie bei phil.cologne – Spezial 06/17
Ritt auf dem Pfeil der Zeit
Rüdiger Safranskis Gedanken zur Zeit auf der phil.Cologne – Literatur 06/16
Erklär mir die Welt!
Die phil.cologne vom 17.-23. Mai – Textwelten 05/16
Lust am Denken
Die phil.Cologne trifft auf einen ungeahnten Wissensdurst – Literatur 06/14
Weiser Walser
Martin Walser spricht am 20.5. im Rahmen der phil.Cologne über das Vergessen – Literatur 05/14
Köln philosophierte
Die phil.COLOGNE brachte die Stadt zum Nachdenken – Spezial 06/13
Einzelfälle mit Struktur
„Ausgrenzung, Entrechtung, Widerstände“ im Friedensbildungswerk – Spezial 11/24
Wurzeln des Rechtsextremismus
Online-Vortrag „Ist die extreme Rechte noch zu stoppen?“ – Spezial 09/24
Eine Historie des Rassismus
Der Kölner Rom e.V. unterstützt Sinti und Roma – Spezial 07/24
Zeitlose Seelenstifter
„Kulturretter:innen“ im NS-Dok – Spezial 06/24
Die Stimme des Volkes?
Vortrag „Was Populisten wollen“ in Köln – Spezial 06/24
Gezielt helfen
Ingrid Hilmes von der Kölner Kämpgen-Stiftung – Spezial 05/24
Zwangloses Genießen?
Vortrag „Die post-ödipale Gesellschaft“ im Raum für Alle – Spezial 04/24
Stabiler Zusammenhalt
„Der Streitfall“ in der Stadtbibliothek – Spezial 03/24
Der Traum von Demokratie
#Streitkultur mit Michel Friedman am Urania Theater – Spezial 02/24
Narrative der Armut
Christopher Smith Ochoa in der VHS – Spezial 11/23
„Gedenken ist kein rückwärtsgerichtetes Tun“
Seit rund einem Jahr leitet Henning Borggräfe das NS-Dok – Interview 10/23
Soziale Vision der Wärmewende
Konferenz in Bocklemünd – Spezial 10/23
Klimarettung in der Domstadt
Die 2. Porzer Klimawoche – Spezial 09/23
Alle Hebel in Bewegung setzen
Arsch huh, Zäng ussenander und Fridays for Future beim Gamescom City Festival – Spezial 09/23
Ein Teil des „Wir“
Diskussion in der Bundeskunsthalle – Spezial 08/23
Auf Augenhöhe
25 Jahre Philosophisches Café in Bonn – Spezial 07/23
Arbeitsstreik und Lebensdichtung
„Her mit dem guten Leben!“ in der BKH Bonn – Spezial 0623
Worte und Wissen gegen Gewalt
Lesung im NS-Dokumentationszentrum – Spezial 05/23