Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
18 19 20 21 22 23 24
25 26 27 28 29 30 1

12.581 Beiträge zu
3.810 Filmen im Forum

Henning Borggräfe
Foto: Stadt Köln

„Gedenken ist kein rückwärtsgerichtetes Tun“

19. Oktober 2023

Seit rund einem Jahr leitet Henning Borggräfe das NS-Dok – Interview 10/23

choices: Herr Borggräfe, wie definieren Sie die Aufgabe von KZ-Gedenkstätten und kommunalen Gedenkstätten wie dem NS-Dok hier in Köln?

Gesellschaftliche Auseinandersetzung als ein offener Prozess, der im Prinzip nie abgeschlossen ist. Das formuliere ich so in Abgrenzung zu dem häufig verwendeten Terminus „Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“. „Aufarbeitung“ hat etwas von: „Das macht man einmal und dann ist es erledigt“. Aber das kann es nicht sein, denn jede Generation muss sich neu und auch immer wieder von vorne mit der Geschichte auseinandersetzen, sich die Geschichte auf ihre Weise aneignen.

Gedenken und Erinnern beziehen sich auf die Vergangenheit. Warum braucht die Gesellschaft das für die Gegenwart?
Wir erleben derzeit eine Zunahme von Angriffen auf Gedenkstätten wie jüngst in Buchenwald oder Celle. Das zeigt: Gedenken ist kein passives, rückwärtsgerichtetes Tun, sondern steht mitten drin in den gesellschaftlichen Konflikten. Gedenkstätten machen mit bei der Diskussion über die Frage, wie wir zusammen leben, wie wir unsere Gesellschaft organisieren wollen. Demokratiebildung geht nicht ohne den Blick in die Geschichte. Gedenken an die Opfer der NS-Verbrechen, kritische Beschäftigung mit der Beteiligung der Mehrheitsbevölkerung an der Verfolgung, aber auch Würdigung des antifaschistischen Widerstands sind erst seit den 80er Jahren als selbstverständliche Aufgabe von Städten und Gemeinden anerkannt. Auch unser Kölner NS-Dokumentationszentrum musste gegen starke Widerstände erkämpft werden – und ist heute die größte Einrichtung ihrer Art in Nordrhein-Westfalen.

Womit wir in Köln wären. Wie geht es dem NS-Dok nach den Corona-Jahren?

In den  Jahren vor Corona haben wir jährlich neue Besucherrekorde aufgestellt und waren 2019 bei 100.000 Besucher:innen angekommen. Der Einbruch war heftig, aber wenn die gute Entwicklung dieses Jahres anhält, werden wir 2023 die 75.000 überschreiten. Schulklassen und Gruppen aus der außerschulischen Jugend- und Bildungsarbeit sind mit einem Anteil von ca. 50 % unsere stärkste Besuchergruppe. Darüber hinaus Angehörige aller anderen Altersgruppen aus Köln und Umland. Aber bemerkenswert ist, dass die zweitstärkste Besuchergruppe ausländische Touristen sind. Gewiss ziehen wir Nutzen daraus, dass Köln ein touristischer Magnet ist, aber das reicht nicht als Erklärung. Köln wurde von der US-Army befreit. In Köln wurden Tausende von Zwangsarbeiter:innen auch aus den Beneluxländern und Frankreich eingesetzt. Die Geschichte ist in diesen Ländern nicht vergessen.

Seit knapp einem Jahr sind Sie Leiter des Hauses. Was haben Sie und Ihr Team sich für die nächsten Jahre vorgenommen?

Wir waren und sind drei in einem: Gedenkort mit den Häftlingszellen und Inschriften der Häftlinge im Keller des Hauses als Mittelpunkt; Lernort als Haus der geschichtlichen Bildung mit bis zu 2.000 Führungen im Jahr, dem jährlichen Jugend- und Schülergedenktag zum 27. Januar, Workshops, der Dauerausstellung und wechselnden Ausstellungen; Forschungsort zu Biographien ehemaliger Häftlinge oder zur Arbeit der Gestapo von Köln aus bis nach Aachen und Bonn. Das hat sich bewährt und das bleibt, aber wir müssen uns neu ausrichten. Unsere Dauerausstellung ist mittlerweile 25 Jahre alt. Die Forschung zur NS-Gesellschaft hat sich seither stark weiterentwickelt, ebenso hat sich die Kölner Stadtgesellschaft verändert, auch die Medien-Rezeptionsgewohnheiten junger Menschen ... Wir denken auch über mehr interaktive Elemente nach oder  über eine App, mit der Nutzer:innen eigenständig Stadtrundgänge unternehmen können, z.B. auf den Spuren einzelner Häftlinge. Wir fragen uns, wie wir Angebote entwickeln können, die man nutzen kann, ohne ins Haus zu kommen. Das geht möglicherweise zu Lasten der Besucherzahlen, vergrößert aber unseren Wirkungsradius und die Nutzerzahlen. Die Aufenthaltsqualität könnte optimiert werden. Eine Cafeteria würde das Haus durchaus „gästefreundlicher“ machen. Wir haben einen enormen Datenbestand über Personen, Orte, Firmen und Ereignisse der Kölner NS-Geschichte: Fotos, Interviews, Nachlässe und Sammlungen. Dieser Fundus ist noch längst nicht zur Gänze erschlossen – und tatsächlich gibt es noch Forschungslücken: Beispielsweise wissen wir nicht genau, was in den einzelnen Gestapo-Büros wirklich geschah, wer dort wofür konkret verantwortlich war. Unsere große Vision dazu: Ein öffentliches Datenportal zur Kölner NS-Geschichte. Das alles läuft im Team unter dem Arbeitstitel „NS-Dok als Ort des Wissens und der Information“.

Das hört sich nach einem anspruchsvollen und langfristigen Vorhaben an. Wie schätzen Sie die Finanzierbarkeit ein?

Die allgemeinen Rahmenbedingungen werden nicht einfacher. Aber ich bin  zuversichtlich, dass die demokratischen Parteien in Köln, im Land und im Bund angesichts des Erstarkens der extremen Rechten die Notwendigkeit der kritischen Erinnerungskultur und der Demokratiebildung sehen. Ohne Optimismus kann man solche Vorhaben nicht angehen.

Interview: Bruno Neurath-Wilson

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Konklave

Lesen Sie dazu auch:

Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24

Die Freiheit ist feminin
„Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum – Kunstwandel 09/24

Aufklärungsarbeit, wo sie dringlich ist
Das Themenfeld „Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum

Zeitlose Seelenstifter
„Kulturretter:innen“ im NS-Dok – Spezial 06/24

Symbole für die Ewigkeit?
„Haut, Stein“ im NS DOK – Kunst 10/22

Gott und Nationalsozialismus
Theo Beckers Bilder im NS DOK – Kunst 07/22

Die letzte Bastion der Freiheit: Humor
„Philibert & Fifi“ im EL-DE Haus – Interview 10/21

Humor gegen Unmenschlichkeit
„Philibert und Fifi“ im EL-DE Haus – Kunst 09/21

Nicht politisch
„1934 – Stimmen“ von Futur3 fragt, wie Menschen sich radikalisieren – Auftritt 10/20

„Eine Gefahr für die Demokratie“
Christian Fuchs über das Netzwerk der Neuen Rechten – Interview 10/19

Spektrum der Erlebnisse
Ausstellung über Kölner Kriegserfahrungen im NS-DOK – Spezial 09/19

Mord in roten Roben
Ausstellung zum Volksgerichtshof des NS-Dok – Spezial 03/19

choices spezial.

Hier erscheint die Aufforderung!