Beim Ödipus-Komplex handelt es sich um ein heutzutage umstrittenes Konzept von Sigmund Freud. Jungen, so die These, würden sich sexuell zu ihren Müttern hingezogen fühlen und ihre Väter als Konkurrenten wahrnehmen. Als Teil des Reifeprozesses akzeptieren die Jungen schließlich das Inzest-Tabu, ordnen sich den Vätern unter und übertragen die Begierde auf andere Frauen – die Autorität der Väter bleibt dabei jedoch als Orientierungsmuster bestehen. Die psychosexuelle Entwicklung von Kindern in der ödipalen Phase wurde in der durch Psychoanalytiker Jaques Lacan geprägten Freud-Rezeption auch auf die Gesellschaft übertragen: Schließlich definiere sich auch diese durch den Zusammenhang zwischen Verzicht und Teilhabe. Der autoritäre Vater, der die inzestuöse Neigung des Kleinkindes unterbindet, tritt hierbei in der Form von Herrscherfiguren auf – vom König bis zum Schöpfergott.
Dass diese Modellvorstellung auf die heutige Gesellschaft nicht mehr zutrifft, konstatieren die feministischen Theoretikerinnen Tove Soiland und Anna Hartmann. Ende April sprechen sie im Kölner Raum für Alle über das Verhältnis von Begehren und Autorität in der politischen Gegenwart. Für ihren Band „Postödipale Gesellschaft“, herausgegeben mit Erziehungswissenschaftlerin Marie Frühauf, haben sie diverse Beiträge gesammelt, die ein neues Bild zeichnen: In westlich-kapitalistischen Gesellschaften habe sich eine „Biopolitik des Genießens“ entwickelt, die sich mit der Idee des Ödipalen nicht mehr vereinen lässt. Das, was in der Freudschen Theorie dem Vater vorbehalten bleibt, ist (zumindest in der Vorstellung) frei verfügbar. Durch diesen unmittelbaren Zugang braucht es keinen Verzicht und auch keine Autorität, die diesen Verzicht garantiert. Die Anziehungskraft totalitärer Führer überträgt sich stattdessen auf Konsumobjekte und die Wissenschaft. Auch wird die ödipale Mutterfigur, die sich gänzlich durch die Fürsorge definiert, durch die erwerbstätige Frau ersetzt.
Diese Analysen sind in vielfacher Hinsicht herausfordernd: Erstens, da sie schwer auf die Wirklichkeit zu übertragen sind – denn die Idee des Verzichts ist keinesfalls verschwunden und der Drang nach autoritären Strukturen weiterhin präsent. Zweitens stellt sich die Frage nach der feministischen und marxistischen Perspektive auf die postödipale Gesellschaft, die zumindest auf den ersten Blick sexuelle Befreiung und Selbstbestimmung verheißt. Im Anschluss an Soilands und Hartmanns Vortrag findet eine Publikumsdiskussion statt, am Folgetag ein vertiefendes Tagesseminar.
Die post-ödipale Gesellschaft | 26.4. 19 Uhr, 27.4. 10.30-17.30 Uhr | Raum für Alle | www.rosalux.de
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