Realität als Konzept mochte lange Zeit eine nette Idee sein, doch ist sie in jüngster Zeit etwas aus der Mode gekommen. Gerade in Zeiten einer Flut an Eindrücken, Quellen, Fakten, Clips und Meinungen, die allesamt für sich proklamieren, die „Wahrheit“ wiederzugeben, herrscht eine Inflation an vermeintlicher Realität, mit der ein Verstand allein überfordert ist. Im Bereich globaler weltpolitischer Verwirrung von Fakten und Gegenfakten wird die Rezeption der Wirklichkeit zu einer Herkulesaufgabe, die ausgebrannte Köpfe hinterlässt. Die großen Kämpfe um die Zukunft, so scheint es, werden in der Gegenwart auf dem Schlachtfeld des Geistes ausgetragen. „Fake-News“ und „alternative Realitäten“ stehen als Schlagworte im Raum, doch denkt schon derjenige falsch, der sie nur auf Seiten der Wutbürger und Fanatiker zu sehen glaubt und sich selbst stets im Besitz der „wahren Wahrheit“ sieht.
Der Kampf um Deutungshoheit kennt viele Verlierer – vor allem jene, die die permanenten Welterklärungen konsumieren müssen und dabei versuchen, Realität als Modell aufrechtzuerhalten. Ausgerechnet die Künstler, sonst vor allem als Fiktionsverwalter aktiv, sehen sich nun in der Verantwortung, die Landkarte der Wahrheit neu zu vermessen. Statt die neuerdings unrealistisch daherkommende Realität zu beklagen, wagt das Theater51Grad-Netzwerk einen kreativen Brainstorm jenseits des Fingerzeigs und hinterfragt die Fähigkeit unvoreingenommener Wahrnehmung. „Blur“ nennt sich der sechsteilige Performance-Zyklus von Sergej Maingardt, Jens Standke und Rosi Ulrich in der Südstädter Orangerie, der an drei Abenden jeweils zwei Beiträge zum weiten Feld des Informationswirbelsturms präsentiert, die jeweils auf Texten Ulrichs basieren und von Andrea Bleikamp inszeniert wurden, tonal wie inhaltlich jedoch grundverschieden daherkommen.
Den Anfang des ersten Doppels machte der Einakter „DELTAx_PHYSIK“, der sich mit Leben und Wirken des Physikers Werner Heisenberg mit besonderer Hinsicht auf dessen Theorie der Unschärferelation beschäftigt. Wenn ein Mann von sich behaupten kann, die Realität als solche ins Wanken gebracht zu haben, dann er. Die titelgebende „DELTAx“ steht in der Quantenphysik für Ortungsunschärfe, die die Regeln der Physik und damit das Fundament jeder Wirklichkeit in Frage stellt. Dieser Logik folgend ist der menschliche Verstand dazu verdammt, in Ungewissheit über die ihn umgebende „Wirklichkeit“ zu leben und jede Realität mehr zu schätzen als zu benennen. Schauspielerisch ist die halbstündige Meditation über Heisenbergs Thesen eine Ein-Mann-Show, bei der Schauspieler Fabian Ringel eine atemlose Tour de Force unter Hochdruck liefern muss. Unterstützung erfährt er dabei von der gleichsam herausfordernden Videoinstallation von Jens Standke.
So nehmen die Besucher des Abends auf Sitzsäcken Platz, in die sie sich fallen lassen und ihren Blick auf die mit halbtransparenter Leinwand bespannte Decke richten können, auf der die physikalischen Ausführungen mit abstrakten Bildfolgen illustriert werden. Angetrieben von pulsierend-minimalistischem Elektroscore formen und verdichten sich dort als weiße Punkte dargestellte Teilchen und Elektronen zu immer neuen Formationen. Auch wenn Physiklaien danach nicht unbedingt erhellt mitsprechen können, wenn das nächste Mal von Heisenbergs Unschärfe oder Schrödingers Katze gesprochen wird, bleibt doch eine Ahnung, dass die sogenannte Realität vielleicht nicht so konkret und faktisch ist, wie sie eben noch schien. Ist die Wahrnehmung etwa nur der Versuch des Menschen, Muster herzustellen und Sinn zu stiften, um sich vor der Aussicht unzusammenhängenden Chaos' abzulenken?
Etwas konkreter widmete sich der zweite Teil des Abends, die musikalische Performance „Paralyzed_PSYCHOLOGIE“, einem Ereignis jüngerer Vergangenheit, das Paulo Álvares am Flügel bearbeitete. So stand hier ein Übergriff privater Security-Kräfte der Fluglinie United Airlines im Mittelpunkt, die im April diesen Jahres einen Fluggast mit brutalen Methoden aus einem aufgrund eigener Fehler überbelegten Flugzeugs beförderten. Was des einen Hausrecht, ist des anderen Schikane. Smartphones wurden gezückt und fingen den Übergriff aus mehreren Winkeln ein. Die Ereignisse weniger Sekunden wurden zu mehreren Minuten an Bildmaterial, die den Gewaltakt aus verschiedenen Winkeln und mit jedem Bildausschnitt andere Einblicke zeigten und die nun gleichsam auf die Leinwand projiziert werden. Nur eines war in keinem der unterschiedlichen Aufnahmen zu sehen: Zivilcourage von Seiten der anderen Passagiere, die es unterließen, das offensichtliche Unrecht zu verhindern. Die Töne, die Sergej Maingardt für den Übergriff findet, sind dem Anlass entsprechend rabiat, atonal und gleichen ihrerseits einem enervierenden Gewaltakt in musikalischer Form. Hier wird das Hören zu einem ähnlich aufwühlenden Prozess wie die immer wiederkehrenden Bilder des Vorfalls selbst, dessen Aufzeichnungen über das Video-Firmament flimmerten. So steht nicht nur die Frage nach vermeintlicher „Realität“ im Zentrum des Abends, sondern auch die Frage, ob die Abwesenheit klarer Trennlinien von wahr und unwahr auch eine Abwesenheit moralischer Prinzipien bedeuten muss.
Ob es den 51Grad-Mitgliedern am Ende ihres Zyklus gelingen wird, das geistige Konsumverhalten seines Publikums zu verändern und zu mehr Klarheit im Umgang mit vermeintlichen Fakten und behaupteter Deutungshoheiten zu erziehen, bleibt offen. Vielleicht jedoch gelingt es, so manchem Besucher den ein oder anderen Fixstern zu zeigen, der hilft, unbeschadet und mit intaktem Geist durch die raue See und tosenden Stürme des Informationszeitalters zu gelangen.
„Blur – 6 Miniaturen zur Unschärfe“ | R: Andrea Bleikamp | Teil 3/4 Fotografie/Logik: 30.11.-3.12. 20 Uhr | Teil 5/6 Wirtschaft/Politik: 1.-4.3.2018 | Orangerie-Theater | 0221 952 27 08
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