Die Aufforderung, sich wie zuhause zu fühlen, käme vielen Menschen in Köln einem Hohn gleich. Ihr „Heim“ sind Hauseingänge, Brückenunterführungen oder Grünanlagen. Schätzungen von Verbänden beziffern die Zahl der Obdachlosen in der Metropole auf rund 6.000 Personen. Diese Mitbürger sind täglich nicht nur den Witterungen, sondern oftmals auch Gewalttätern schutzlos ausgeliefert. Nicht selten in einer gesellschaftlichen Abwärtsspirale gefangen, geraten sie in Abhängigkeiten, die, abseits vom Wohlwollen anderer, in vermeintlichen Trostspendern wie Alkohol, Amphetaminen und anderen Substanzen münden. Prostitution und Kriminalität aufgrund von Geldmangel treten die persönliche Biografie mitunter noch weiter in den Abgrund. Die Reaktionen der Kölner Bürger auf jene Schicksale reichen vom Ausdruck des Mitgefühls über Verunsicherung bis hin zu vehementer Ablehnung. Dabei ist der Riss im Lebenslauf oftmals eine direkte Folge zivilisatorischer Leitwerte: Leistung, materieller Reichtum, Anpassung.
Den Bemühungen, Auswege zu schaffen, fehlt es in der Regel nicht an kurzfristigen Hilfsmaßnahmen, wie beispielsweise Essensausteilungen, medizinischen Angeboten oder dem Bereitstellen einer nächtlichen Unterkunft – es braucht vielmehr langfristige Maßnahmen als Voraussetzung für den Einstieg in ein geregeltes, selbstbestimmtes und vor allem würdevolles Dasein. Das Modell „Housing First“, das seit einigen Jahren unter anderem erfolgreich in Finnland angewandt wird, setzt nicht auf temporäre Notunterkünfte, sondern auf dauerhafte Wohnangebote. Damit stellt das Konzept ein reales Zuhause vor die Erlangung eines Arbeitsplatzes – in Deutschland ist es meist umgekehrt. Ohne Job beziehungsweise geregeltes Einkommen, kein Mietvertrag, lautet hier die Faustregel. Angelehnt an die neue Sichtweise engagiert sich der gemeinnützige Verein Arche für Obdachlose seit Februar dieses Jahres für Menschen in sozialen Notlagen.
„Unsere Zielsetzung ist humanistisch. Wir möchten mit wachem Herzen und Verstand tragende Lösungen finden, um dem schreienden Elend der Obdachlosigkeit etwas entgegenzusetzen“, sagt Vereinsvorsitzender Thomas Quast, der hauptberuflich als Richter am Landgericht tätig ist. „Ich werde immer wieder mit der Möglichkeit konfrontiert, Häftlinge in die Obdachlosigkeit zu entlassen. Das kann einen nicht kalt lassen“, so der 58-Jährige. „Wir schätzen alle sehr die bereits bestehenden Initiativen, die sich seit Jahren ehrenamtlich engagieren. Wir möchten die Leute nachhaltig von der Straße holen. Das geht nur, wenn sie eine dauerhafte Wohnung statt temporärer Unterkünfte erhalten. Außerdem muss die Hilfe mit psychosozialer Betreuung, medizinischer Versorgung und, wenn irgendwie möglich, juristischer Beratung erfolgen. Obdach ist viel, aber nur Obdach reicht nicht“, sagt Quast. „Dazu gehört auch, dass die Leute ihre Hunde behalten dürfen. Die Tiere sind oftmals der einzige Begleiter und ein Seelenfreund. Allein daran scheitert es mitunter, wenn es um die Vermittlung einer Wohnung geht“, ergänzt Geschäftsführer Bram Gätjen, der als weiteren Mehrwert die Vernetzung von Antragstellern nennt.
Gelingen soll das Projekt mittels Geldakquisen und der Einschaltung anerkannter Träger. „Wir haben mittlerweile einen hohen sechsstelligen Betrag zur Verfügung. Wir können damit ohne allzu lange Beantragungsprozesse Einrichtungen, beispielsweise den ‚SKM‘ (Anm. d. Red.: Sozialdienst katholischer Männer), den ‚SKF‘ (Sozialdienst katholischer Frauen), die ‚OASE‘ (Obdachlosenberatungsstätte), die Auffangstation ‚Gulliver‘ oder die Diakonie mit einzelnen Summen unterstützen“, berichtet Quast. Doch auch mittelfristige Ideen sollen umgesetzt werden. So möchte der Verein am Wiener Platz in Köln-Mülheim jeweils einen mobilen Dusch- und Beratungsbus einsetzen. „Dadurch würden wir den langwierigen Prozess einer Baugenehmigung vermeiden und könnten den Leuten vor Ort schnelle Angebote offerieren“, erklärt Gätjen. Mit dem Ankauf einer Immobilie sollen zukünftig schließlich Wohnungen eingerichtet werden, die mit Kooperationspartnern und deren Personal betrieben werden. „Bisher haben wir leider noch nichts gefunden. Wir sind aber dankbar für jeden Hinweis“, wendet sich der Geschäftsführer an die Öffentlichkeit.
Auf die Frage, warum es trotz erheblicher Anstrengungen nicht gelingt, die Wohnungslosigkeit zu überwinden, antwortet Thomas Quast ohne zu zögern: „Am fehlenden politischen Willen! Es gibt tatsächlich ein latentes gesellschaftliches Bewusstsein für die Problematik, doch das allein reicht nicht. Um strukturelle Lösungen zu schaffen, muss man Geld in die Hand nehmen. Ab diesem Punkt wird es schwierig, denn die Haushaltssituation in Köln und anderen Städten ist kritisch, obwohl wir von der Verwaltung wirklich gut unterstützt werden. Ich habe jedoch den Eindruck, dass sowohl verwaltungstechnisch als auch politisch, ständig Abwägungsentscheidungen getroffen werden müssen. Das muss mitunter vielleicht auch so sein, doch der Mensch darf dabei niemals auf der Strecke bleiben.“
Nachdem unlängst gar die Obdachlosenberatungsstelle OASE im Zuge der Erweiterung des Deutzer Hafens ihr Domizil und somit ihren Tätigkeitsbereich zu verlieren drohte, sprang die Arche ein und stellte 55.000 Euro für den Aufbau einer neuen Stätte zur Verfügung. „Wir tragen die Kosten für Architekten, Projektsteuerung und all diese Dinge. Es ist wichtig, dass diese Anlaufstelle weiterhin existiert“, unterstreicht Bram Gätjen den Stellenwert der Einrichtung, die den Besuchern zudem Essen, eine Kleiderkammer sowie ein Postfach anbietet.
Für die Herausforderungen der kommenden Jahre wünscht sich der Verein weitere Mitstreiter: „Wir brauchen Leute, die mit Leidenschaft dabei sind, egal ob durch tatkräftige Unterstützung vor Ort oder durch Spenden. Man kann bei uns bereits mit 30 Euro pro Jahr Mitglied werden. Es kann schließlich jeden treffen. Obdachlosigkeit ist keine Frage der Ausbildung“, sagt Thomas Quast.
Arche für Obdachlose e.V. | 0221 95 49 12 57 | www.arche-obdach.org
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