Es gibt diese eine Schlüsselszene in „Die Sammler und die Sammlerin“, in der Agnes Varda mit ihrer Handkamera die endlos anmutenden Autobahnfahrten durch das grau behangene Frankreich einfängt. Das Einfangen ist hier wörtlich gemeint. Mit der freien Hand versucht sie die Laster, die von ihrem eigenen Fahrzeug überholt werden, zu umschließen. „Ich versuche sie zu fangen“, sagt sie dazu im Off. „Um Dinge, die vorbeigehen, festzuhalten? Nein. Nur um zu spielen.“ Diese Lust am Sammeln, und zwar nicht etwa von Postkarten oder Münzen, sondern gerade von dem, was nicht gebraucht wird, von dem was angeblich keinen Wert mehr besitzt, diese Leidenschaft teilen mit der Regisseurin die Veranstalter der Open-Air-Reihe „Globalgeschichten des Erzählens“.
Begonnen hat die Idee in einer alten Werkstatt in Niehl. Daher auch der Name des Vereins. „Mit der Zeit ist das alles immer größer geworden“, sagt Johannes Bluth, einer der Mitglieder der Niehler Freiheit, „und als die Möglichkeit da war, auch mal größere Räume zu nutzen, hat sich das mit den Veranstaltungen auch einfach ein bisschen verselbstständigt.“ Als der Ort zaghafte Popularität durch Flohmärkte und Filmvorführungen errang und die Niehler Freiheit immer mehr Leute an die Peripherie der Stadt lockte, rückten auch schon die Bagger an, und der Niehler Freiheit wurde die Halle gekündigt. Bluth: „In Köln war einfach die Beobachtung, dass das nicht so leicht zu machen ist. Hier ist ja vieles recht kommerzialisiert und es gibt sehr wenig Immobilien, die so genutzt werden können.“
Mit ihrem neuen Standort ganz am Ende der Vogelsanger Straße, eingebettet zwischen Schrottplätzen und An- und Verkäufen für Autos, ist die Niehler Freiheit aber auch nicht unglücklich. Der Ort, den sie liebevoll als „Schrauber-Ghetto“ bezeichnen, besteht aus einer kleinen Werkstatthalle und einem Hinterhof, auf dem Filme gezeigt, Flohmärkte veranstaltet und andere kulturelle Events zelebriert werden. Der Hof wird komplettiert durch einen Dj-Pult und einer Bar, an der frisches Essen und Getränke angeboten werden. Aus den Boxen wabert ruhige House-Musik. Das Publikum verteilt sich in Grüppchen über den Hinterhof und der Werkstatthalle, in der an diesem Tag die Ausstellung „Kunst aus dem Nichts“ gezeigt wird.
Die Ausstellung steht ganz unter dem Motto des später laufenden Films. Auf Facebook warb die Niehler Freiheit für die Veranstaltung und war auf der Suche nach „Kunst, die man nicht in Galerien findet, sondern eher auf dem Schrottplatz“. Ausgestellt wurde alles, was an Vorschlägen einging. Dass sich dies in der Heterogenität der Kunstwerke niederschlägt, ist verständlich.
Den Schwerpunkt der Ausstellung bilden die Collagen von Denise Kynd, die seit zehn Jahren in aller Welt Ausschau nach altem Papier aus Zeitschriften, Werbung und anderen Erzeugnissen sammelt, und in ihren Collagen kompiliert. Oft verfolgen die bunten Collagen bestimmte thematische Muster. Die Künstlerin beschäftigt sich unter anderem mit Gender-Rollen und den medial-normativen Ausstellungen von Männlichem und Weiblichem. Aber auch mediale Konstruktionen von fremden Kulturen, die Kynd in den letzten Jahren bereist hat, sind Thema. Daneben gibt es abstrakte Skizzen, Wandmalereien, Skulpturen aus Metall oder auch eine Videoinstallation.
„Wir haben die Ausschreibung gemacht, um auch Leute von außerhalb mehr einzubinden“, erklärt Sandra Riedmair, ebenso Mitglied des Vereins. Und das hat funktioniert. Zwar mag die Ausstellung nicht unbedingt mit einem stringenten roten Faden überzeugen“ – auch eine riesige Vakuumkuppel steht etwas verloren im Raum – „doch macht gerade diese naive Spontaneität des Zusammengewürfelten den Reiz aus. „Es ist auch eine ganz neue Möglichkeit, sich wieder mit Kunst zu beschäftigen. Heute waren wir hier und haben diese Halle eingerichtet und dabei selbst noch einmal Kunstwerke erschaffen. Und somit ist dieser Titel „Kunst aus dem Nichts“ auch sehr treffend im Nachhinein gewesen“, sagt Riedmair.
Um 22 Uhr startete dann die Filmaufführung im Hinterhof. Nach ein paar kleineren Schwierigkeiten mit der Technik und dem ein oder anderen Freigetränk als Entschädigung, ging nun Agnes Varda stellvertretend auf die Suche nach dem Weggeworfenen. In ihrem Essay-Film „Die Sammler und die Sammlerin“ aus dem Jahre 2000 wird an vielen verschiedenen Orten Frankreichs der „Nachlese“, also dem Aufsammeln nachgespürt. In dem ikonischen Bild „Les glaneuses“ (deutsch: Die Sammler) von Jean-François Millet aus dem Jahr 1857 ist diese Praxis, Ernterückstände auf den Feldern aufzusammeln, festgehalten. Eine jahrhundertealte Tradition also, die sich auf der Schwelle des Illegalen bewegt. Varda begibt sich mit ihrer Handkamera auf die Suche nach modernen Formen des Auflesens und Sammelns. Dabei findet sie sehr verschiedene Menschen. Von Sozialhilfeempfängern, die von den Resten der Kartoffelernten abhängig sind, über einen Starkoch, der über die Herkunft seiner verwendeten Lebensmittel ganz genau Bescheid wissen will, bis hin zu Künstlern, die ähnlich wie in der Ausstellung in der Niehler Freiheit dem Weggeworfenen noch etwas abzugewinnen wissen. „Die Leute denken, das wäre ein Haufen Müll“, sagt Louis Pons dazu im Film. „Ich sehe es als ein Haufen Möglichkeiten.“
Bei allen gesellschaftskritischen Akzenten, die der Film setzt, geht es vornehmlich um genau diese Möglichkeiten. Nicht der moralische Zeigefinger, der die Gesellschaft und seine Konsumpraktiken ablehnt, wird erhoben, sondern der Praxis der Alternative wird liebevoll gehuldigt: Der Lust am Sammeln und dem Schöpfungsprozess des Neuen aus dem Alten. Und da trifft sich der Film wieder mit der Idee der Niehler Freiheit und dem Konzept der Filmreihe: „Es gibt globale Machtverhältnisse, die sich auf einer höheren Ebene abspielen, die sich aber auch ganz klein auf einer persönlichen Ebene widerspiegeln. Wir haben den Film gezeigt, weil er eben mit dem Gefühl von uns sehr stark im Einklang steht. Also dass man aus Dingen, die nichts kosten, mit viel persönlichem Einsatz, etwas sehr Schönes schaffen kann. Und das findet sich in dem Film, aber auch in der Kunst wieder“, so Bluth. Gemeinsam wolle man den großen politischen Fragen in dem kleinen Biotop der Niehler Freiheit begegnen. Und sollte man auch keine Antworten finden, so bleibt doch wenigstens die Kunst und der Film, die als Inspirationsquelle dienen und alternative Denkanstöße geben können.
Im Ausstellungsraum findet sich, auf einem Kanister plakatiert, ein Zitat aus Paul Austers New-York-Trilogie: „Meine Frage lautet nun: Was geschieht wenn ein Ding nicht mehr seine Funktion erfüllt? Ist es noch das Ding, oder ist es etwas anderes geworden?“ Über dieser Frage verzweifelt Auster. Was ist der kaputte Schirm noch wert und wie lässt er sich beschreiben? „Da er seinem Zweck nicht mehr dienen kann, hat der Schirm aufgehört, ein Schirm zu sein. Er mag einem Schirm ähneln, er mag einmal ein Schirm gewesen sein, aber nun hat er sich in etwas anderes verwandelt. Das Wort ist jedoch dasselbe geblieben. Daher kann es das Ding nicht mehr ausdrücken. Es ist ungenau, es ist falsch, es verbirgt das Ding, das es enthüllen soll. Die Zerbrochenheit ist allgegenwärtig, die Unordnung ist universal. Die zerbrochenen Menschen, die zerbrochenen Dinge, die zerbrochenen Gedanken. Die ganze Stadt ist ein Schrotthaufen.“ Sollte dieser Stadt-Schrotthaufen so aussehen wie in der Niehler Freiheit, wäre das vielleicht gar nicht so schlimm.
Nächsten Donnerstag wird der Film „Into Eternity“ gezeigt. Wie es nach dem Ende der Filmreihe weitergehen soll, will Bluth noch nicht verraten: „Wir haben auf jeden Fall Lust mit solchen Veranstaltungen weiterzumachen. Das entspricht aber auch unserer Herangehensweise, dass wir uns erst mal Zeit lassen und diese Sachen wachsen müssen.“
Globalgeschichten und die Macht des Erzählens: „Into Eternity“ | Do 20.7. 21 Uhr | „Mein Tod ist nicht dein Tod“ | Mi 26.7. 21 Uhr | Einlass 19.30 Uhr | Vogelsanger Str. 385 | Facebook
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