Für „Die Soldaten“ griff Bernd Alois Zimmermann in der Zeit zurück, um ein Musiktheater der Zukunft zu erproben. Das Stück aus der Sturm-und-Drang-Zeit des mit klassischen Vorbildern brechenden Dramatikers J.M.R. Lenz hat er gemäß seines philosophisch-dramaturgischen Konzepts einer „Kugelform der Zeit“ sprachlich unangetastet gelassen, allerdings massiv gekürzt: Auch so sind die ohne Pause noch 130 Minuten nötig, um aus der Geschichte um den gesellschaftlichen Abstieg der verliebten Bürgerstochter Marie, deren Verführung und moralische Zerstörung durch sexuell frustrierte Soldaten der Komponist zum Sündenfall des triebgesteuerten Menschengeschlechts erhöht, eine düstere apokalyptische Vision zu machen. Zimmermann verlängerte die Gesellschaftskritik von Lenz ins 20. Jahrhundert, das zwei Weltkriege hinter sich hatte und sich der nicht mehr zu trauenden menschlichen Natur philosophisch neu zu nähern versuchte.
Im Wesentlichen geht es um Musik und was sie tun kann. Nur durch das Umdeuten des Spezifischen ins Allgemeine mit Blick auf das Phänomen der Gewalt schließt sich die Kluft zwischen dem tragikomischen, in Gesellschaftsschichten und Milieus verankerten Material, das von Lenz übrig ist, und Zimmermanns großer kompositorischer Ambition, die in kritischer Absicht ständig über Zeit und Raum der Handlung hinausdeutet. Die Opernbearbeitung ließe sonst das seiner Wortgewalt beraubte Ständedrama leicht einige Nummern zu klein und in der Moral zu katholisch-lehrstückhaft aussehen für das modellhafte Experiment eines totalen, in den Mitteln pluralistischen Musiktheaters. Auf die Dramen-Grundlage kommen neue Schichten bis hin zum aktuellen Inszenierungskonzept des katalanischen Regisseurs Carlus Padrissa (Mitbegründer von La Fura dels Baus), der signalhaft Gender-Aspekte hervorhebt.
Leicht durchgeknallt darf das alles wirken in dem Jahr, in dem Zimmermann 100 Jahre alt geworden wäre. In „Die Soldaten“ steckt schließlich auch ein Stück Wahnsinn, in dem die Exzentrik der Künstler Lenz und Zimmermann durchscheint, und es ist nur folgerrichtig, dass Carlus Padrissa diese Aspekte, denen sich die Oper im Grunde verdankt, mitverarbeitet und mit mehr oder weniger aktuellen Bezügen auffrischt, soweit die Gesangstexte und die Musik es zulassen. Während Zimmermann der Zeitkritik von Lenz unter Eindruck des Krieges (Zweiter und Kalter) einen Einschlag des Zeitlosen und Überzeitlichen gab, verankert Padrissa das Werk etwa mit Kurzauftritten von Pussy-Riot-Aktivistinnen, UN-Blauhelmen, früher unmöglichen Sexualdarstellungen und moderner Choreografie (Mireia Romero Miralles) in der Gegenwart, leider manchmal etwas herausstechend.
Padrissas Mut zur Regie, sein Verpflichtetsein gegenüber der sexuellen Ebene, gibt den im Material angelegten Zusammenhängen, am Beispiel von Soldaten, zwischen sexueller Unterdrückung und Unglück, bis hin zum Faschismus und Krieg, eine vielleicht noch zentralere Stellung. Beim teilweise auf Lenz zurückgreifenden doppelten Ende zwischen Kollektivschuld, Abrechnung und dem Gegenbild neuer Hoffnung schwingen fragwürdige Symbolik und dramaturgische Beliebigkeit mit – vollwertig wirkt doch immer nur das Bühnengeschehen, das in Partitur und Libretto ausreichend mitgedacht ist. So durchbricht Padrissa den Pessimismus von Zimmermann (und Lenz), den er durchweg drastisch bebildert, in letzter Sekunde mit einem Lichtblick oder Fragezeichen, der Umarmung von Vater und Tochter.
Klar: Bisher war noch keine Katastrophe das absolute Ende. Wenn alle Soldaten (gerade bei Padrissa tendenziell für das männliche Geschlecht stehend) am Galgen sterben, ist daran der Krieg schuld. Die Galgen, an denen sich die Soldaten erhängen, und die vorausgehenden Bilder von Bergen nackter Leichen suggerieren einen darin begründeten Selbstmord oder eine kollektive Strafe. Ein letztes Mal findet Gewalt statt, wo bei Zimmermann der Tod einfach Soldatenschicksal war und der Suggestivkraft von Musik und Ton vertraut wurde.
Im Staatenhaus bietet sich die Gelegenheit, eine Bühne um das Publikum herumzubauen, als ein Schritt hin zu Zimmermanns Vorstellungen von einem „omni-mobilen, absolut verfügbaren architektonischen Raum“. Die Bühne von Roland Olbeter ist ein hufeisenförmiger Steg, er umrundet das am Boden spielende Gürzenich-Orchester, verläuft dann am aufsteigenden Publikum vorbei und schließt es von hinten ein. Der Steg ist rundum von einer Wand umgeben, die als geschlossene Projektionsfläche für (selten entscheidendes) Videomaterial dient und über Zugänge für die Schauspieler verfügt. Nebenbühnen sind im Zuschauerraum, hinter einer entfernbaren Rückwand und oberhalb des Stegs aufgebaut, dazu werden alle inneren Gänge bespielt, in Teilen vieles gleichzeitig. Der gerüstartige Aufbau mit viel kaschierendem Bühnenmollton und unverkleideter Technik (es riecht nach Elektronikladen und so ganz sicher fühlt man sich nicht) sieht bei allem Aufwand nach einer Minimallösung aus, wenn man an die Raumschiff-artigen Wünsche Zimmermanns denkt.
Den systematisch überforderten Zuschauern wird mit dem auf Monitoren mitlaufenden Text, einer halbstündigen Einführung und Erläuterungen im Programmheft geholfen, in dem das Libretto abgedruckt ist, sowie mit drehbaren Stühlen, die besonders in den vorderen Reihen zwingend nötig sind. Von hinten ist der Überblick relativ gut, dafür sind aber die Schauspieler oft weit weg – die Rivalen Stolzius (Nikolay Borchev) und Desportes (Martin Koch) sowie einige andere sehen sich dann sehr ähnlich und man sucht oft nach der Person, die gerade singt und dabei auch mal vom Orchester übertönt wird. Gerade die Nebenfiguren verschwimmen dann zu einer Gesamtheit, ohne dass es allzu schlimm wäre.
GMD Francois-Xavier Roth dirigiert weitgehend im Sitzen ein in Einzelgruppen und Solisten aufgeteiltes Riesenorchester – alle schwarz gekleidet und „unsichtbar“. Weitere Nebenorchester und eine Jazzcombo samt Hilfsdirigenten sind im Zuschauerraum platziert, dazu sitzt in der letzten Reihe die Technik, die unter anderem einige Musik und Geräusche zuspielt. Der Abend ist ein Triumph musikalischer Reproduktion, ein Bravourstück für den besonders laut beklatschten Roth und die Musiker, aber auch für die Sänger und Sängerinnen, allen voran die amerikanische Sopranistin Emily Hindrichs (Marie). Die Zwölftonmusik steht nicht dem lebendigen Ausdruck im Weg, den auch Zimmermann hören wollte („unwillig“, „eifernd“, „gönnerhaft“, „weint“), sondern zwingt zu Detailarbeit und gibt ein Gerüst vor. Es ist auch einiger Spaß daran seitens der Interpreten zu erahnen, die weit auseinanderliegenden Töne zu treffen. Das Orchester bettet die Szenen und Gesangspartien in übergeordnete Gedanken ein. Unter Ausschluss des Sentimentalen und Gradlinigen wird von Anfang an kritisch und vorwegnehmend die tragische Geschichte überblickt.
Das Bühnengeschehen bricht ebenfalls aus dem Moment heraus, wenn in „Simultanszenen“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft parallel gezeigt werden. Die Gegenwart wirkt mehr als Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft, statt dass die Menschen ihr Schicksal bewusst bestimmen könnten. Diese Machtlosigkeit des Einzelnen erstreckt sich bei den jungen Menschen in „Die Soldaten“ sogar auf den eigenen Willen und erst recht auf das Weltgeschehen.
„Die Soldaten“ | R: Carlus Padrissa | 11., 17.5. 19.30 Uhr, 13.5. 16 Uhr, 20.5. 18 Uhr | Oper Köln im Staatenhaus | 0221 221 28 400
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