Kurz nach „Mikel“ von Judith Vanistendael erscheint mit Javier de Isusis „Ich habe Wale gesehen“ wieder ein Comic über den Konflikt im Baskenland: Zwei Schulfreunde werden entzweit, als sich der eine der ETA zuwendet, und der Vater des anderen von der ETA ermordet wird. Erst Jahrzehnte später kommen sie – der eine Priester, der andere im Gefängnis – wieder in Kontakt. Isusi umkreist die Figuren elliptisch und erzählt nachvollziehbar von ihrer Seelenpein, in ihrer Geschichte gefangen zu sein. Die individuelle Geschichte lässt die politischen Hintergründe außen vor und spiegelt das grundsätzliche Problem langjähriger Konflikte, wenn keiner mehr weiß, wann wer wie angefangen hat, die Schmerzen auf beiden Seiten aber schon so groß sind, dass Einigung kaum mehr möglich scheint (Edition Moderne). Zwölf Jahre hat es gedauert, bis Dominique Goblet ihre autobiografische Erzählung „So tun als ob heißt lügen“ fertigstellen konnte. So ist das, wenn man so tief in der Geschichte steckt und sich erst herausarbeiten muss. Es sind sehr expressive Zeichnungen voller surrealer Momente, mit denen sich Goblet an ihre Traumata wagt. Umso eindringlicher ist das Egebnis dieser kathartischen Selbstheilung durch zeichnendes Erzählen (Avant Verlag).
Ein junges Paar passt auf zwei Hunde auf. Als einer stirbt, wird der zweite depressiv. Die gedrückte Stimmung lässt die beiden an ihrer Beziehung zweifeln. So sehr, dass die Tränen fließen… „Cry me a river“ fängt als realistische Beziehungsgeschichte an, wird dann aber mit dem kritischen Gefühlszustand der Figuren zunehmend surreal. Immer mehr faszinierende Wasser-Motive fließen durch die berührende Geschichte von Alice Socal (Rotopol). Im vergangenen Jahr hat er sein großartiges Debüt „Röhner“ bei Rotopol veröffentlicht, nun folgt der nicht minder grafisch beeindruckende Band „Birgit“ von Max Baitinger, der den kurzen Moment beschreibt, als eine neue Chefin die altgediente Arbeitskraft in einem Betrieb dazu bringt, ihren Platz zu räumen. Baitinger verformt, dehnt, zoomt mit seiner wundervollen Grafik auf die Wirklichkeit und kommt dem Leben mit diesen Verfremdungen besonders nah (Reprodukt). „Maggie Garrisson“ ist schon ziemlich cool: Nach langer Jobsuche kann sie bei einem Privatdetektiv anfangen. Der ist nicht nur ein Tunichtgut, er landet auch gleich im Krankenhaus. Und so stolpert Maggie allein in ihren ersten Fall. Im ersten Band „Lach doch mal, Maggy!“ erzählen Lewis Trondheim und die Zeichnerin Stéphane Oiry lakonisch und lustig von der schnoddrigen Maggy und ihren durchaus spannenden Abenteuern. Drei Bände gibt es bislang im Französischen. Könnte durchaus auch hierzulande ein ungewöhnliches Rolemodel werden, die gute Maggy… (Schreiber & Leser).
Reif für die Insel? Und doch Städteurlaub? Da kommt nur Venedig in Frage! Der Anfang des Jahres mit 69 Jahren verstorbene japanische Zeichner Jiro Taniguchi hat im letzten Jahr die „Venedig“-Ausgabe der edlen Louis Vuitton Travel Book-Serie mit Reisebüchern von Zeichnern gestaltet. Die rudimentäre Handlung liefert vor allem einen guten Vorwand, durch die Straßen der Lagunenstadt zu wandern und imposante Ansichten einer ungewöhnlich leeren Stadt zu versammeln. Das sieht im Hochsommer zur Zeit der Biennale sicher anders aus. Carlsen veröffentlicht eine weniger exklusive, aber dennoch sehr schöne Ausgabe des Buchs. Für den Coffee-Table – oder als Urlaubslektüre.
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