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„Bilder von uns“
Foto: Presse

„Ein Kampf um die Deutung der Vergangenheit“

22. Dezember 2015

Am Theater Bonn wird Thomas Melles neues Stück „Bilder von uns“ uraufgeführt – Premiere 01/16

Uraufführung am Theater Bonn: Ein Manager wird mit Bildern aus seiner Jugend konfrontiert, die auf einen sexuellen Missbrauch am Internat hindeuten. Autor Thomas Melle befasst sich in „Bilder von uns“ mit der Problematik einer folgenreichen Umdeutung der eigenen Vergangenheit.

Jesko Drescher ist beruflich auf der Überholspur. Zielstrebig verfolgt er seine Karriere, hat es zum Manager eines Unternehmens gebracht – bis ihm Fotos geschickt werden. Nacktfotos von ihm selbst als kleinem Jungen. Jesko versucht sich zu erinnern. Bilder dämmern herauf von Shootings im Eliteinternat, einem Pater, Mitschülern. Doch an einen Missbrauch kann er sich nicht erinnern. Hat er alles verdrängt? Und warum die Bilder: Geht es um Erpressung? Jesko macht sich auf die Suche nach dem Absender. Er trifft seine früheren Mitschüler wieder und gerät in eine Auseinandersetzung um die Deutung der Vergangenheit. Thomas Melles neues Stück „Bilder von uns“ ist von den Missbrauchsfällen am Aloisiuskolleg in Bonn inspiriert. Es geht um die Bilder, die wir uns selbst von unserer Vergangenheit und von anderen machen.Ein Gespräch mit dem Autor Thomas Melle.

choices: Herr Melle, basiert „Bilder von uns“ auf einem konkreten Fall?
Thomas Melle:
Den Hintergrund bildet der 2010 hochkochende Skandal um das jesuitische Aloisiuskolleg in Bonn, auf dem ich auch war. Aber es ist kein Schlüsselstück. Ich bin mit dem Thema schon ein paar Jahre herumgegangen und habe viele Gespräche geführt, mich selbst abgeklopft – und dachte, das ist ein interessanter Hintergrund, um Konflikte durchzuspielen. Das Stück spielt in der Gegenwart ohne Rückblenden. Es geht darum, wie die Leute auf die Umwertung ihrer Vergangenheit reagieren und welche unterschiedlichen Erklärungsmodule sie nutzen. Ob sie die Vergangenheit unter den Teppich kehren oder sich eine neue Identität anheften und so das eigene Scheitern erklären.

Sind die Figuren realen Menschen nachgebildet?

Thomas Melle
Foto: Karsten Thielker
Thomas Melle (*1975 in Bonn) studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Neben Prosa und Übersetzungen schrieb er die Theaterstücke „4 Millionen Türen“ (mit Martin Heckmanns), „Das Herz ist ein lausiger Stricher“, „Aus euren Blicken bau ich mir ein Haus“ oder „Nicht nichts“. „Bilder von uns“ entstand für das Theater Bonn.

Die Figuren des Stücks gibt es nicht, aber es gibt den Hintergrund. Ich wollte mich eigentlich noch weiter davon entfernen. Aber die Konflikte können sich vor diesem Hintergrund gut entfalten. Es geht vor allem um Bilder. Es ist wie ein Gelände mit Grautönen. Man kann nicht genau sagen, wann der Übergriff angefangen hat. Manche Bilder sind recht normal, andere wirken fast pornographisch. Doch schon bei dieser Bewertung läge ich mit meinen Mitschülern in den Haaren. Es war ein System, das plötzlich falsch gewesen sein soll und die eigene Jugend in Mitleidenschaft zieht.

Die ganze Jugend wird mir zum Unfall“, sagt Jesko im Stück. Wie groß ist der Schock, vom Akteur seiner Jugend zum Opfer zu werden?
Manche ziehen sich das richtig an und wollen erklären, was sie kaputt gemacht hat. Andere entwickeln Abwehrmechanismen. Jesko macht eine doppelte Entwicklung durch. Zunächst betätigt er sich als Detektiv, um rauszufinden, wer ihn erpresst – falls es überhaupt eine Erpressung ist. Und dann sagt er: Das ist mir doch zu viel, das wehre ich ab. Schließlich sucht ihn eine Art Schicksal heim.

Kann man sich auch in die Rolle des Opfers hineinreden?
Man kann auch sagen, das war ein System, das mit Unterdrückung, Ausschluss gearbeitet hat und in dem sich ein bestimmter Pater ein Königreich geschaffen hat, in dem er triebfuhrwerken konnte. Immer in der Sublimierung mit den Fotos, aber der Missbrauch ist da. Was macht man damit? Ich bin mit den Betroffenen vom Aloisiuskolleg und dem Gesprächskreis „Eckiger Tisch“ im Kontakt. Es gibt Bücher und Berichte, also eine Akkumulation an Fakten, aber wie lassen sie sich deuten? Die vier Positionen, die verhandelt werden, stehen in einem Kampf um die Deutung der Vergangenheit.

Wie funktioniert in einer solchen Situation unsere Erinnerung? Kann man sich dagegen wehren, dass die ganze Jugend plötzlich kontaminiert wird?
Es ist wie ein Filter, der sich über alles legt. Noch die harmloseste Begegnung kann auch in dieses Licht getaucht und kontaminiert werden. Die Erinnerung wird dadurch völlig neu bestimmt, wenn man das zulässt. Oder man kämpft dagegen an. Ich möchte das im Stück in der Schwebe halten, also den Konflikt zwischen diesen unterschiedlichen Positionen hervortreiben, ohne mich auf eine Seite zu schlagen.

Hat Verdrängung nicht auch eine positive Funktion?
Es gibt im Stück den Satz: „Verdrängung ist das, was uns über Wasser hält.“ Verdrängung ist negativ konnotiert, trotzdem brauchen wir sie. Sonst würden wir von der Masse der Erinnerungen erschlagen. Und auch hinsichtlich dieses Prozesses der Kontaminierung: Wenn man ein Erinnerungsfragment aus der Kindheit für schlecht hält, kann dieser Vergiftungsprozess dann auch auf völlig harmlose Dinge übergreifen.

Inwieweit trifft Konstantins Racheakt mehr die eigenen Mitschüler als Pater Stein?
Dement wird der Pater erst während des Prozesses, doch das hat nicht so viel Bedeutung im Stück. Konstantin möchte eigentlich den Skandal aufdecken, aber er steht einem starken Apparat und einem System gegenüber, das sich ständig entzieht. Er ist allerdings zu passiv und abgeschlafft, um solche Dinge durchzuziehen. Er wünscht es sich, aber seine Freundin  macht es letztendlich. Sie hat eine etwas merkwürdige Funktion. Manchmal ist sie so eine Art Schicksalsgöttin oder Kommentatorin, die bei allem zugegen ist. Konstantin dagegen kann sich nur als Opfer denken und sieht zugleich, dass seine Mitschüler Karriere gemacht haben. Sind sie nicht Nutznießer dieses Systems? Mit welcher unausgesprochenen Schuld sind sie belastet?

Spielt die soziale Hierarchie für den Opferstatus eine Rolle?
Wie glaubhaft ist ein halber Junkie, der irgendwelche Patres anklagt? Wer kann einen Diskurs lostreten? Wer kann den Diskurs gestalten? Für einen sozialen Außenseiter kann das schwierig werden. Andererseits schrecken Menschen wie Jesko mit einem respektierten, hohen sozialen Status davor zurück. Für sie stellt sich die Frage, inwieweit sie ihren sozialen Status durch die Opferrolle gefährden.

Inwieweit trägt die Hysterisierung der Medien zu diesem Prozess bei?
Genau das ist 2010 mit der Odenwaldschule oder dem Aloisiuskolleg passiert. Damals fand eine wahnsinnige Hysterisierung statt. Wenn es nicht mehr für Aufmerksamkeit sorgt, wird es wieder fallengelassen. Das ist die Logik der Medien. Viele, die auf einer solchen Schule  waren und plötzlich sexuell missbraucht worden sein sollen, wehren sich gegen eine solche Hysterisierung.

Jeder, der von der Odenwaldschule kommt, trägt also inzwischen ein Brandzeichen?
Jeder hat die Scheiße an der Backe. Die Biografien sind alle dadurch verändert worden – im Blick von außen, vielleicht auch im Blick von innen. Plötzlich gibt es nur noch ein Thema und es wird nicht mehr differenziert. Diese Diskussionsprozesse, die in einem selbst stattfinden, die mit Leuten stattfinden, wollte ich auch abbilden.

Theater unterliegen auch Moden. Ist es ein besonderer Reiz für Sie als Autor, antizyklisch Stücke zu schreiben?
Zyklisch auf keinen Fall, ich werde definitiv kein Flüchtlingsstück schreiben. Und antizyklisch: Ich denke gar nicht mit oder gegen Trends auf dem Theater. Theaterfreunde und Kritiker in Berlin haben mir nahegelegt, mit Alltagsexperten, also Betroffenen zu arbeiten. Das ist aber weder meine Sache, noch tut das dem Stoff gut. Ich arbeite dann doch recht autark.

„Bilder von uns“ | R: Alice Buddeberg | Do 21.1.(UA), Mi 27.1. 20 Uhr | Theater Bonn, Werkstattbühne | 0228 77 80 08

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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