Hunderte Jahre lang haben Vermögende immer gedacht: Wenn nichts mehr geht, wenn alles verloren scheint, dann kommt immer ein Bote des Königs. Auch wenn wir heute eher in einer Scheindemokratie leben, fast 354 Jahre nach der Erstaufführung hat sich Molières „Tartuffe“ in zahllosen Inszenierungen erschöpft und gehört wohl zu den Stücken, die man nicht unbedingt mehr sehen will und muss. Den Gegenbeweis oder vielleicht auch nur die Ausnahme, die eine Regel bestätigt, zeigt jetzt das Düsseldorfer Schauspielhaus mit der Inszenierung von Robert Gerloff, die die religiöse Heuchelei und ihre kausalen Ergebnisse für die Familie des Orgon Pernell zwar nicht leugnet, aber zeitgenössisch in einer Wahlperiode, wo das (nur militärisch!) mächtigste Land der Welt von einem notorisch tippenden Handytastenclown regiert werden will. So verwandelte sich US-Amerika in Disneyland und Washington in Entenhausen, also logischer Schluss: die Handlung des Tartuffe auch dort spielen zu lassen. Die Schauspieler werden zu Comicfiguren, das Bühnenbild zur Innerei einer Lavalampe mit drei Luftballons, die sexy phallische Visionen erzeugen können und irgendwie immer und überall um die Protagonisten herumwirbeln. Bunt, bunt um jeden Preis und alles in Lack und Leder, beziehungsweise körperfreundliches Latex, denn das lässt den Schweiß abfließen – an der tiefsten Stelle des Kostüms natürlich nur. Alle neun Schauspielerinnen und Schauspieler erledigen das mit Bravour, man würde da echt niemanden herausheben wollen. Die Deodorants vielleicht.
Geruchssicher in der 10. Reihe hat man den Überblick über die unbebaute Szenerie, auf der sich die schillernde Familie herumzerrt. Mutter und Hausherr im Bann des religiösen Egomanen und Spielchenspielers, Tochter und Schwiegersohn in spe in heller Aufregung, ein Sohn am Rande des gewalttätigen Nervenzusammenbruchs und Gattin Elmire und Zofe in alarmierter Habacht-Stellung. So schnell hat man das Vorspiel auf dem Theater erklärt, alle wünschten sehr der Menge zu behagen, und das taten sie auch bei immer stärker werdendem Zwischenapplaus. Dann erstarrt die Szenerie und der Meister betritt den Raum, es scheint kälter zu werden, denn der ist nicht bunt, sondern unschuldig weiß, aber auch in Latex und mit Plastikschopf, wie alle. Robert Gerloff inszeniert nicht nur Pop, sondern auch mit Streetdance-Metaphern. Immer wieder müssen die Schauspieler in ihren knappen Kostümen rocken oder performen, die Hände himmelhoch jauchzend zu Wagner oder Techno, die vermeintlich Guten reduziert auf ein Häuflein Armseligkeit. Nur Gattin und Zofe können dem Tartuffe das Wasser reichen, doch dieser hat das System alternativer Wahrheiten längst perfektioniert. Machen wir es kurz: Orgon stürzt in den Ruin, total Loser, Tartuffe hat nicht nur Besitz, sondern auch den König im Sack. Denkste, denken alle Wissenden, jetzt kommt der, der reitet durch Nacht und Wind – da isser schon – doch der selbsternannte Heilige ergreift noch einmal das Wort und jetzt findet Gerloff vielleicht zur Urversion von Molières Komödie, die bekanntlich von Ludwig XIV. (war auch aus Entenhausen) verboten wurde.
„Tartuffe oder Der Betrüger“ | R: Robert Gerloff | 6.5., 3.6. je 18 Uhr, 11.5. 19.30 Uhr, 31.5. 16 Uhr | Central Düsseldorf | 0211 36 99 11
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