Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
23 24 25 26 27 28 29
30 31 1 2 3 4 5

12.582 Beiträge zu
3.812 Filmen im Forum

„Der Idiot“
Foto: Matthias Horn

Christus in der Petersburger Gesellschaft

27. Oktober 2016

Matthias Hartmann mit „Der Idiot“ in Düsseldorf – Theater am Rhein 11/16

Die Welt hat sich weitergedreht, seit der Adel das russische Reich in seinen Klauen hielt und Dostojewski seinen Idioten schrieb. Vielleicht ist es eine Untergangsvision auf dem Hintergrund seines jahrelangen Zwangsaufenthalts in Sibirien, es bleibt ein Stück Weltliteratur über den Sinn des Lebens und des Leidens. Regisseur Matthias Hartmann hat „Der Idiot" für die Theater in Dresden und Düsseldorf auf die Bühne designed, mit einer eigenen Vision auf Gutmenschentum und zwanghaft ablaufende Kausalitäten zwischen Liebe, Gier und Genuss und der latent immer vorhandenen Verlorenheit eines Verstandes. Der Idiot hier ist keiner, die Idioten bleiben es ihr ganzes Leben. Vier Stunden, zwei Pausen, Anfälle nicht ausgeschlossen.

Was geht ab? Der junge, leicht devote Fürst Myschkin kehrt nach Jahren aus dem Schweizer Sanatorium nach St. Petersburg zurück und begegnet im Zug dem Rogoschin (Christian Erdmann), der zu seiner Erbschaft fährt und von Nastassja erzählt. Zu sehen ist dabei auf der tonlos grauen Surface-Bühne nichts. Das Ensemble zischelt die Vorbeifahrt, das Licht streifelt die beleuchteten Abteilfenster und der spielwütige Christian Erdmann imitiert die Bahnschwellen mit den Lichtschachtabdeckungen. Für Hartmanns Ideen legen sich die Schauspieler ins Zeug. Sie werden Teil einer Art antikem Satyrspiel, bei dem die erzählende Romanhandlung Dostojewskijs Teil der Dialoge wird, die sie sich teilen, deren Handlungsanweisungen sie sich oft widersetzen oder die sie spöttisch kommentieren. Nastassja Filippowna Baraschkowa widersetzt sich niemand, sie ist die Herrscherin der Bühne, des Geschehens, selbst wenn sie es verlassen hat. Yohanna Schwertfeger hält dieses schauspielerische Niveau vom splitternackten Auftritt im Pelz bis zum letzten Atemzug unter Seidentüchern. Erst recht, wenn mal richtig Kohle im Kamin verbrennt.

Wie ein Triptychon wirkt die Szenerie immer. Ein kastenförmiges Tafelbild bildet sie. In der Mitte, durch Ausziehwände separiert, findet die eigentliche Handlung statt, in der rechten und linken Tafel wird zugearbeitet. Hier werden Geräusche gemacht, auch kurz das in diesem Roman eigentlich nie vorkommende Volk gespielt. Dort räkeln sich das Böse, die Liebe, der Vorsatz und die Vergebung. André Kaczmrczyk beeindruckt anfangs mit seiner offenen Gestik, dem heiligen Schein seiner reinen Kinderseele, doch mit den Stunden verliert sich diese Aura und die devote Mimik bekommt etwas zu viel chaplineske Monotonie. Dafür erspart sich und uns die Regie eine Verortung, russische Folklore und zeitauthentische Kostümierungen. Modernisiert ist die Sprache, es plätschert, es spaßt, tu was du schreibst, originell statt normal. Und doch – die adlige Gesellschaft tut der armen Seele nicht gut, nicht gut, da hilft auch keine noch so große Erbschaft. Nur ein gefleischter Lüstling ist irgendwann weg. Kommentar: Ab jetzt taucht der Großgrundbesitzer Tozkij im Roman nicht mehr auf. Hartmanns Choreografie in dieser Kiste ist bewundernswert, rechts links vorne hinten, alle extrem spielfreudigen Protagonisten sind ständig mit irgendeinem Alltagsgeschäft beschäftigt, die ganze Geschichte ist gut erzählt, die 240 Minuten werden kein Zwangsaufenthalt. Anschauen.

„Der Idiot“ | R: Matthias Hartmann | Sa 12.11. 19 Uhr, So 13.11. 18 Uhr | Central am Bahnhof Düsseldorf | 0211 36 99 11

PETER ORTMANN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Mufasa: Der König der Löwen

Lesen Sie dazu auch:

Offen und ambitioniert
Andreas Karlaganis wird neuer Generalintendant in Düsseldorf – Theater in NRW 12/24

Der raue Charme des KAP1
Das FFT in Düsseldorf bezieht eine neue Spielstätte – Theater in NRW 11/21

Die Macht, ihr Preis und die Tradition
Düsseldorfer Schauspielhaus feiert 50-jähriges Bestehen – Theater in NRW 01/20

Schlachtfeld der Phantasie
„Hamlet“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater 03/19

Hölle, wo ist dein Stachel?
„Die Göttliche Komödie“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater am Rhein 07/18

Wie es den Kwants gefällt
Philipp Löhles „Die Mitwisser“ in Düsseldorf – Theater am Rhein 06/18

Endlich Knast für die Dummheit
„Tartuffe oder Der Betrüger“ in Düsseldorf – Theater am Rhein 05/18

Hommagen an zwei Pop-Ikonen
David Bowie in Düsseldorf und Hildegard Knef in Köln – Musical in NRW 04/18

Waiting for the gift of sound and vision
Enda Walshs und David Bowies „Lazarus“-Musical in Düsseldorf – Theater am Rhein 03/18

Gladiatoren, die in der Arena weinen
„Konsens“ im Düsseldorfer Central am Bahnhof – Auftritt 02/18

Bad Feeling vs. Feel-Good
„Der Sandmann“ in Düsseldorf und „Natürlich blond“ in Wuppertal – Musical in NRW 12/17

Mäzene bitte melden!
Düsseldorf saniert sein Schauspielhaus mit Spenden – Theater in NRW 11/17

Theater am Rhein.

HINWEIS