Liebe
Frankreich, Österreich, Deutschland 2012, Laufzeit: 126 Min., FSK 12
Regie: Michael Haneke
Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Emanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell, Ramón Agirre, Rita Blanco
>> www.liebe.x-verleih.de
Mitreißendes Leinwanddrama
Das Böse ist immer und überall
„Liebe“ von Michael Haneke
Eine Altbauwohnung, ein altes Paar um die 80, gelegentlich Besuch: Viel mehr braucht Michael Haneke nicht für dieses Drama. Ein Drama, das er mit „Liebe“ betitelt. Ausgerechnet Haneke, der sich in seiner filmischen Laufbahn vordergründig auf die Mechanismen von Gewalt fokussiert hat („Bennys Video“, „Funny Games“, „Caché“, „Das weiße Band“). Haneke ist ein Forscher, der sich ästhetisch immer neu erfindet. Der im Alter – gerade wurde er 70 Jahre alt – noch immer neue Formen sucht und Formen vollendet. Nach dem „Weißen Band“, einer zwischen atemberaubenden Naturaufnahmen und beengenden Innenräumen angesiedelte Gewaltstudie in Schwarzweiß folgt nun mit „Liebe“ ein Kammerspiel, das tatsächlich ein Liebesfilm ist, aber ebenso ein Melodram.
Das Drama erzählt von Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva), zwei Musikprofessoren im Ruhestand. Beide sind um die 80, beide rüstig. Die Kamera beobachtet das Paar vornehmlich unbewegt. Szenen einer nächtlichen Heimkehr, das Paar zur Nacht im Ehebett, beim Frühstück in der Küche. Die beiden verstehen einander, erzählen, flirten, witzeln. Sie lieben sich. Der Kontakt zur Tochter (Isabelle Huppert) ist oberflächlich, sie wohnt im Ausland und hat Eheprobleme. Georges und Anne aber sind glücklich. Dann sitzt Anne eines Morgens am Küchentisch, neben ihr Georges, der plaudert, doch ihr Blick entweicht minutenlang ins Leere, verloren, unansprechbar. Es ist der Anfang eines Leidenswegs, der Anne erst in den Rollstuhl, dann in die Bettlägerigkeit und Georges in die Rolle ihres Pflegers verbannen wird. Eine wachsende Herausforderung an eine alte Liebe.
Ein Liebesfilm in aller Konsequenz
So bewegend Haneke die Beziehung von Anne und Georges bebildert, die gezeichnet ist von Respekt, Vertrauen, Humor und Wärme, so hinreißend, wie der Regisseur die Zweisamkeit auf die Leinwand bannt – so nähert sich Haneke den Mechanismen, die in seinen Figuren ungeahnte Abgründe heraufbeschwören. Wenn Anne kraftlos im Bett liegt und mit Nachdruck verkündet: „Ich will nicht mehr“, wenn sie um das letzte Quantum Würde und Selbstbestimmung kämpft. Wenn Georges’ Ermutigungen, seine unbeirrbare Zuversicht an dem zunehmend wirren Gestammel seiner Frau auflaufen. Wenn sich Verzweiflung breitmacht. Dann ist das mehr als realitätsnah, mehr als eine Lovestory. Der Titel also nur eine Finte? Nein. Denn dieses Drama ist ein Liebesfilm in aller Konsequenz. Nicht nur im Glück, sondern vor allem im Leid seiner Figuren, in der Herausforderung erzählt Haneke vom Rückgrat der Liebe. Von einer Herausforderung, der sich nur die Liebe stellen kann.
Dass das Leben mehr als nur süß ist, hat uns Haneke bereits gelehrt. Nun legt er dar, dass das Gleiche für die Liebe gilt. Und ein Haneke geht natürlich noch weiter: Vermag Liebe auch menschlichen Abgründen das Verwerfliche zu nehmen? Bedeutet Liebe im Extremfall auch Scheitern? Relativiert Liebe Versagen? Das sind Gedanken, denen man sich mit der ruhigen Gangart des Films ausgiebig hingeben kann. Haneke denkt nie eindimensional. Wo Gut ist, da ist auch Böse. Oder, in seinem Fall: Das Böse ist immer und überall. Haneke inszeniert dies mit Ruhe und Kraft, magisch und doch alltäglich. Der ungetrübte, aber unspektakuläre Blick ist nur gelegentlich gebrochen von Georges’ Tag- und Albträumen. Dies sind Bilder der Sehnsucht, Bilder des Wahns, Momente, die von Setting und Stimmung an Polanskis frühe klaustrophobische Thriller erinnern, die aber dieses Drama nicht dominieren.
Schön und schrecklich zugleich
Haneke interessiert eher die Wahrnehmung als das Wort. Er ist eher Beobachter als Zuhörer, Beobachter eines bewegenden Schicksals. Ein cineastisches Erlebnis, das nicht zuletzt getragen wird vom umwerfenden Spiel der beiden Hauptdarsteller, von Jean-Louis Trintignant („Und immer lockt das Weib“, „Z“, „Das wilde Schaf“) und Emmanuelle Riva („Hiroshima, mon amour“, „Familientreffen mit Hindernissen“). Beide sind bereits über 80, beide dem Film und der Theaterbühne verhaftet, beide schlichtweg erhaben. Das Erzähltempo ist so langsam, die Kamera so ausdauernd, dass sich dieser Film jedem Fernsehbild entzieht. Er vermag seine Größe, seine Magie, seinen Sog nur auf der Leinwand auszuspielen. „Liebe“ ist kein 90-Minuten-Betroffenheits-TV-Drama – „Liebe“ ist ein zweistündiges Leinwandopus. Ein Sog, begründet in der Performance der beiden Hauptdarsteller, ein Sog der stummen Gesten, der Konzentration, der ausdauernden, unbewegten Kamera, der entschleunigten Montage, der inszenatorischen Dichte, die keiner Filmmusik bedarf. Vor allem aber entwickelt der Film einen Sog der schleichenden Langsamkeit, der den Zuschauer zum Aushalten nötigt und ihn in einen Bann zieht, den nur Kino zu schaffen vermag.
Hanekes Liebesfilm ist ein Melodram. Denn über allem Leid thront die Liebe. Es ist ein grausamer Film, weil er die Liebe feiert und zugleich Angst macht vor ihrer Kraft. Einmal kommt ein junger Pianist, ein Protegé von Anne und Georges, auf einen Kaffee vorbei und resümiert, erschrocken von Annes Zustand, dass der Besuch schön war und schrecklich zugleich. Genau das ist dieser Film.
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