Corona hat die Welt im Griff. Niemand würde bestreiten, dass diese Pandemie unser aller Leben beeinträchtigt. Am schlimmsten betroffen sind natürlich diejenigen, die Angehörige verloren haben oder selbst mit dem Virus ringen. Dann stehen viele Existenzen vor dem Aus. Investitionen stocken. Miete und Einkäufe wollen trotzdem bezahlt werden. Und die Zukunft ist ungewiss.
Doch es ist auch ein selbst geschaffener Teufelskreis. Covid-19 bestimmt nicht nur die Gespräche am Mittagstisch oder über den Skype-Bildschirm, sondern nimmt auch den Großteil der Berichterstattung ein. Corona ist überall. Unser Gedankenkarussell dreht sich um das Virus – und um uns selbst.
Dabei gilt es gerade in Krisenzeiten den Blick für das große Ganze nicht zu verlieren. Andere Herausforderungen und Konflikte halten nicht einfach den Atem an und warten, bis wir uns ihnen wieder zuwenden. Gerade im Schatten medienpräsenter Ereignisse spielen sich oft Szenen ab, die eigentlich scharfsinnige Betrachtung benötigen. Und die nach Aufschrei und Widerstand verlangen.
Sei es, dass fragwürdige Gesetze durchgewunken, Deals gemacht oder Unterschriften gesetzt werden – oder eben neben der „höheren Gewalt“, die Europa gerade in Schrecken versetzt, ein menschengemachter Albtraum tobt.
„Während in Europa Gesundheit zur Staatsangelegenheit Nummer eins erklärt wurde, hat man an der Grenze mit abgelaufenem Tränengas auf Kinder geschossen“, erzählt Lorenz, der für ein Auslandsjahr gerade in Istanbul ist. Der Student konnte das Leid nicht mit ansehen und wurde spontan selbst aktiv. Er reiste nach Edirne an der türkisch-griechischen Grenze und packte mit an: „Wir haben von früh bis spät Decken, Regenplanen, Hygieneartikel, Kleidung, Essen, Trinken und Medikamente organisiert und verteilt.“
Zusammengetan hat er sich dafür mit anderen Freiwilligen via Facebook. Die derzeitige Berichterstattung empfindet er als verstörend: „Das Virus scheint das größte und einzige relevante Thema in den Medien zu Hause, aber ein wenig verspätet auch in der Türkei zu sein. Europa ist so in Selbstmitleid versunken, dass es keine Rolle mehr spielt, dass wir teilweise der Grund für die Probleme anderer Leute sind.“
Dabei verdeckt Corona eigentlich keine anderen Probleme unserer Gesellschaft, sondern lässt sie im Gegenteil umso deutlicher hervortreten. Wer schon über nationale Abschottung in Europa und so manchen Alleingang der einzelnen Bundesländer der Kopf schüttelt, dem müsste bei derart aggressivem Eurozentrismus eigentlich die Luft weg bleiben.
„Amnesty International bestätigt zwei Todesfälle durch scharfe Munition“, berichtet Lorenz, dessen Bild von der bösen Türkei und der guten EU sich mit der Zeit gewandelt hat. „Ganz am Anfang steht natürlich trotzdem eine Lüge, ein Schachzug der türkischen Seite – das Versprechen offener Grenzen. Es waren aber beispielsweise die türkischen Soldaten, die den Menschen, die nur in Unterwäsche zurückkamen, neue Kleidung gaben.“ Die ernüchternde Rückkehr vom verheißungsvollen Europa.
Von Asylrecht ist in Griechenland in diesen Tagen wenig zu spüren und Menschenrechte scheint auf beiden Seiten der Grenzen ausgesetzt zu sein. Europa zeigt sich weiterhin handlungsresistent: „Da ist der Unwillen der Europäer, Sicherheit und Gesundheit für Geflüchtete zu gewähren. Menschenrechte in Europa bleiben für jene Menschen leere Versprechungen.“ Während wir hier um die fünfte Packung Klopapier kämpfen und uns mit Desinfektionsmittel en masse eindecken, müssen in jenen Grenzgebieten die Flüsse als einziges Hygienemittel herhalten. Ob bei Minusgraden unter freiem Himmel oder zusammengepfercht in den Camps – in dieser Lage sind Maßnahmen gegen Corona ein Luxus, den man sich nicht leisten kann.
Wer Schiffbruch erleidet, hat gutes Recht, sich in ein Rettungsboot zu flüchten. Auch darf man sich die eigene missliche Lage bewusst machen. Trotz alledem ist das keine Entschuldigung dafür, andere aus dem Boot zu stoßen und noch hinterherzutreten.
Die aktuelle Situation in Europa kann hart sein. Auch hier haben es sich nicht alle im Reihenhaus mit Garten gemütlich gemacht und probieren neue Backrezepte für Brotsorten aus. Aber zu vergleichen sind die Zustände trotzdem nicht. „Es geht mir vor allem darum, dass die Europäer mitbekommen, dass in ihrem Namen Menschen erschossen und misshandelt wurden. Dass sie aufgefordert wurden, sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt bis auf die Unterwäsche auszuziehen und dann den Rückweg Richtung Türkei anzutreten.“ Zum sogenannten Schutz unserer EU-Außengrenzen.
Derartiges muss hierzulande wahrlich niemand durchmachen. Und es erscheint bereits ein Silberstreif am Horizont. Die Zahl der Neuinfektionen steigt nicht mehr so drastisch an, die Kurve scheint abgeflacht, sogar von „Exit“ ist die Rede. Für niemanden wird es so weitergehen wie vor Corona. Aber wer seine Existenz aufgegeben, sein Hab und Gut verloren hat und nun ohne Papiere durch Europa taumelt, der sollte zumindest eins hier finden: eine Zukunft.
Darum heißt es: Wach bleiben, nicht hinter Hamsterkäufen einmauern und warten, bis die Krise vorüber ist. Denn die Krise ist in uns selbst. Wir entscheiden jetzt, ob wir nur für uns oder vielleicht auch für die alte Dame im Stockwerk unter uns sorgen wollen. Oder für den neuen Nachbarn, der gerade noch an den europäischen Grenzen um sein Leben bangt.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mehr Solidarität wagen
Die Theater experimentieren mit Eintrittspreisen – Theater in NRW 01/23
Von Hexen und Reptiloiden
Lothar Kittstein gibt Einblicke in „Angst“ – Premiere 11/21
2G oder 3G?
Die Theater zwischen Landesverordnung und Sicherheitsgefühl – Theater in NRW 10/21
Erste Kinos und Theater öffnen
Filmpalette, FWT, Bauturm und Comedia starten Programm
Virtuelle Fön-Frisur
Buch und Diskussion zum Theater-Lockdown – Bühne 05/21
allenichtganzdicht
Über die Schauspieler-Kampage #allesdichtmachen
Plötzlich Lehrer
Generation Zombie: Krise nach der Krise? – Spezial 03/21
In der Verlängerung beginnen
Museen zwischen öffnen und schließen – Kunst in NRW 02/21
Erinnerungen ans Kino
„Köln im Film“ bereitet lokale Kinogeschichte neu auf – Kino 01/21
Kunst und Kaufkraft
wehr51 in Zeiten der Pandemie – Auftritt 12/20
Wir Kultur-Protestanten
Warum die Schließung von „Freizeiteinrichtungen“ unchristlich ist – Theater in NRW 12/20
„Es ist schwer, die Schließungen zu verstehen“
Studiobühnen-Chef Dietmar Kobboldt über den kulturellen Lockdown – Interview 12/20
Wurzeln des Rechtsextremismus
Online-Vortrag „Ist die extreme Rechte noch zu stoppen?“ – Spezial 09/24
Eine Historie des Rassismus
Der Kölner Rom e.V. unterstützt Sinti und Roma – Spezial 07/24
Zeitlose Seelenstifter
„Kulturretter:innen“ im NS-Dok – Spezial 06/24
Die Stimme des Volkes?
Vortrag „Was Populisten wollen“ in Köln – Spezial 06/24
Gezielt helfen
Ingrid Hilmes von der Kölner Kämpgen-Stiftung – Spezial 05/24
Zwangloses Genießen?
Vortrag „Die post-ödipale Gesellschaft“ im Raum für Alle – Spezial 04/24
Stabiler Zusammenhalt
„Der Streitfall“ in der Stadtbibliothek – Spezial 03/24
Der Traum von Demokratie
#Streitkultur mit Michel Friedman am Urania Theater – Spezial 02/24
Narrative der Armut
Christopher Smith Ochoa in der VHS – Spezial 11/23
„Gedenken ist kein rückwärtsgerichtetes Tun“
Seit rund einem Jahr leitet Henning Borggräfe das NS-Dok – Interview 10/23
Soziale Vision der Wärmewende
Konferenz in Bocklemünd – Spezial 10/23
Klimarettung in der Domstadt
Die 2. Porzer Klimawoche – Spezial 09/23
Alle Hebel in Bewegung setzen
Arsch huh, Zäng ussenander und Fridays for Future beim Gamescom City Festival – Spezial 09/23