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„Reise durch die Nacht“
Foto: Stephen Cummiskey

Gedankengewitter

30. Oktober 2012

Furiose Mayröcker-Dramatisierung am Kölner Schauspiel – Theater am Rhein 11/12

Ein Zug fährt durch die Nacht. Von Paris nach Wien. Im Schlafwagenabteil ein Schriftsteller-Ehepaar, beide nicht mehr ganz jung. Der Beziehungsmehltau liegt schwer auf ihrem Miteinander. Während er sich ganz den rationalen Erfordernissen einer Zugfahrt überantwortet, gerät die Frau in ein selbst-reflexives Gedankengewitter, das sich zu einem lebensbedrohlich depressiven Mahlstrom auswächst.

Die englische Regisseurin Katie Mitchell nimmt sich nach Texten von Kroetz, Woolf und Sebald diesmal Friederike Mayröckers 1984 erschienenen Kurzroman „Reise durch die Nacht“ vor. Das 130 Seiten starke Buch ist ein literarischer Bewusstseinsstrom. Ein Text, in dem die Zugfahrt nur den Rahmen bildet für den Aufenthalt der Ich-Erzählerin in der Echokammer der Assoziationen. Harsche Selbstexamination verbindet sich dabei mit Erinnerungen an die Eltern, Verweisen auf die Bildende Kunst oder die Rekapitulation der Beziehung zu Julian – alles aber wird zum Bestandteil der „Schreibarbeit“, der Transformation von Erfahrung in Sprache.

Mitchell nimmt Mayröckers Text allenfalls als Anlass für ihr Making-of-Theater und konzentriert die Erlebnisse der Erzählerin auf die Vater-Erinnerung, die Schreiberfahrung und den hinzuerfundenen Quickie mit dem Schaffner. Ein kleiner Plot, der sich im bühnenbreiten Waggon eines Schlafwagens (Bühne: Alex Eales) abspielt, aber eigentlich erst auf der Leinwand über der Bühne erkennbar wird. Julia Wieninger leiht der namenlosen Erzählerin das Gesicht, das im Close-Up zur Seelentopographie wird. Wie sie sich den anbrandenden Erinnerungen an den brutalen „Pfeifenvater“ (Nikolaus Benda) ausliefert, ihren Lebenspartner (Daniel Betts) wie einen Fremden taxiert, manisch in ihre Kladde schreibt oder sich mit schmerzhafter Lust dem Schaffner hingibt, ist bewegend zu sehen. Dass der Textpart weitgehend von Ruth Marie Kröger im Nachbarabteil gesprochen wird, Körper und Sprache also getrennt werden, ist nicht nur ein eindrückliches Bild einer depressiven Persönlichkeit, sondern erweist sich auch als spielerische Umsetzung von Mayröckers Verfahren eines autonomen Textes. Ein furioser Spielzeitauftakt am Kölner Schauspiel.

„Reise durch die Nacht“ nach dem Roman von Friederike Mayröcker | R: Katie Mitchell | Schauspiel Köln/Halle Kalk | 26./30./31.10./2.-4.11. 19.30 Uhr| www.schauspielkoeln.de

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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