Einer geht, einer kommt. In beiden Fällen reagiert die Gesellschaft ohne jede Empathie, sondern mit Irritation. „Wer ist Walter?“ hat die 1988 in Basel geborene Ariane Koch ihr neues Stück betitelt, das Simone Blattner am Theater Bonn zur Uraufführung bringt. Walter ist verschwunden, hat seine vertraute Umgebung verlassen, sich herauskatapultiert aus allen analogen sozialen Netzwerken und die Seile vollständig gekappt. Geht es um Flucht? Geht es um Protest? Verbirgt sich darin Verachtung oder doch eher ein Versagen angesichts der Zumutungen der Welt? Die Gesellschaft aus Freunden, Bekannten, Vertrauten und Unvertrauten rätselt angesichts der Leerstelle, die Walter hinterlassen hat. Wer war überhaupt Walter? Es geht um die Spurensuche nach einem Verschwunden. Das Vakuum wird zur Tränke von Vergötzung und Verachtung. Für die einen ist Walter ein Rebell gegen die Delirien einer torkelnden Zivilgesellschaft, für die anderen ist er Fahnenflüchtiger angesichts dringend zu verrichtender gesellschaftlicher Herausforderungen.
Nicht anders ergeht es Beckmann, der aus dem 2. Weltkrieg in seine Heimatstadt Hamburg zurückkehrt. In Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, das Charlotte Sprenger am Schauspiel Köln inszeniert, trifft der psychisch und physisch versehrte Soldat, der über keinen Vornamen mehr verfügt, auf eine weitgehend indifferente Umwelt. Seine Frau hat ihn längst für einen anderen Mann verlassen; ein Oberst sieht in ihm immer noch Menschenmaterial, der andere mahnt ihn zum Optimismus und selbst die Elbe weist den Selbstmörder Beckmann zurück. Ein Stationendrama der Vergeblichkeit, nicht nur angesichts einer völlig abgestumpften Gesellschaft, die mit dem Kriegsheimkehrer nichts anzufangen weiß. Die Zerstörungen haben auch jeden Lebenssinn vernichtet. „Wo seid ihr denn alle? Gebt doch Antwort. Warum gibt denn keiner eine Antwort?“, ruft Beckmann am Ende verzweifelt. Doch selbst Gott, der ihm zuvor zumindest im Traum begegnet war, schweigt beharrlich. Borcherts 1947 zunächst als Hörspiel veröffentlichtes Drama schlug im Nachkriegsdeutschland ein wie eine (literarische) Bombe.
Sind Beckmanns schmerzhafte Erinnerungen noch zu übertreffen? Lässt sich für dieses dezimierte Selbstwertgefühl ein Äquivalent finden? In Köln auf jeden Fall: Jeder FC-Fan leidet derzeit an den nicht zu betäubenden Phantomschmerzen der Bundesliga- und Europaleague-Amputation. Was bleibt ist der fußballerische Kreuzweg der Zweiten Liga, von der es nur eine Erlösung geben kann: den Aufstieg. Zur Schmerzlinderung kommt jetzt endlich Rainald Grebe nach Köln, um mit seinem Fußball-Oratorium „EFFZEH!EFFZEH!“ in einer Art dramatischer Massenpredigt geistlichen Beistand zu leisten und Hand aufzulegen.
„Wer ist Walter?“ | R: Simone Blattner | 5., 10., 16., 18., 25.10. 20 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
„Draußen vor der Tür“ | R: Charlotte Sprenger | 26., 27., 30.10. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
„EFFZEH!EFFZEH!“ | R: Rainald Grebe | 27., 30.10. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
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