Am Ende ist nichts gut, aber Fragen finden Antworten. Die einst unsichtbaren Toten werden von den Lebenden erkannt. Der Verlust erhält Vor- und Nachnamen, Geburtsdaten. Ein Stück Erde für das Gedenken, ein bisschen Himmel, dem sich die Äste eines Baumes der Erinnerung knöchern entgegen winden. Alexandra Badeas Drama „Aus dem Schatten: Thiaroye“ erzählt am Schauspiel Köln von dem Massaker der französischen Kolonialarmee in Senegal im Jahr 1944. Mehr als 300 Senegalesen, die ihren Sold für Kriegsdienste einforderten, wurden damals in der Stadt Thiaroye auf Befehl der Machthaber erschossen.
Regisseur Poutiaire Lionel Somé inszeniert die Tragödie als zweistündige Aufarbeitung, die aus verschiedenen Perspektiven in unterschiedlichen Epochen dargestellt wird. Sein hochkonzentriertes Ensemble um Zainab Alsawah (als Journalistin Nora), Leonard Burkhardt (Banker Biram), Serge Fouha (Flüchtling Amar), Glenn Goltz (Soldatenenkel Régis) und Katharina Schmalenberg (Familienmutter Nina) meistert das Kunststück des zielsicheren Um-einander-herum-Spielens, denn die generationenübergreifenden Ereignisse finden auf der Bühne (Marion Schindler) parallel statt.
Die zunächst scheinbar weit voneinander entfernten Geschehnisse nähern sich an, in einem dynamischen Prozess von Identitätssuche, Schuld, Sühne und zaghaften Anflügen von Vergebung. Sie zeugen von den tiefen Gräben, die im Zeitalter des Postkolonialismus humanistische Ansätze in den Abgrund stürzen. Als „Kind des Hasses“ bricht ein junger Mann mit seinem Leben im Frankreich der 1970er Jahre, um auf dem afrikanischen Kontinent das Schicksal seines Vaters zu enträtseln. Er lässt seine Geliebte zurück, die ihre Schwangerschaft verschweigt. Serge Fouha überzeugt hier in der Rolle des Halbwaisen Amar mit einer vehementen Sprache, die den ganzen Körper als geballtes Medium einsetzt. Sein Sohn Biram trifft viele Jahre später auf den Enkel des einstigen Todesschützen in Thiaroye.
Die komplexe, hochpolitische Schilderung eines Massenmords jenseits der Geschichtsbücher und das traumatische Erbe von Opfern wie Tätern verdichtet sich im Zuge der Aufführung zu einer mitunter irritierend homogenen Gesamtdarstellung, in der über weite Strecken der dokumentarische Charakter dominiert. Erst danach ist „Aus dem Schatten ...“ auch eine fragile Liebesgeschichte zwischen Nina, die dem kommunistisch regierten Rumänien entkam, und Amer, der bereits als Kind aus dem Senegal nach Westeuropa gelangte. Das scharfkantige Weltenpuzzle erscheint zunächst unlösbar, mit zunehmender Dauer offenbart es aber die Konturen einer „Menschlichkeit“, die Schlimmeres anrichtet als der so oft heraufbeschworene Tod Gottes – schließlich bedeutet jeder verpasste Frieden auch das Ende irdischer Hoffnungen. Die Schatten unzähliger Despot:innen steigern im Winter 2025 nochmals die innere Kälte zwischen Nord- und Südpol. „Aus dem Schatten ...“ wäre zu jeder Jahreszeit sehens- und fühlenswert. Eine berührende Performance.
Aus dem Schatten: Thiaroye | So 1.2. 19 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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