Die Familie Joad dürfte heute zu den Stammwählern von Donald Trump gehören. Sie hocken im allgegenwärtigen Blau ihrer Jeansklamotten (Kostüme: Maria Roers) auf billigen Gartenstühlen, Grandma mit Flinte im Anschlag. Der Ton ist rau, das Arbeitsethos protestantisch.Man ist stolz, den Native Americans das Land weggenommen zu haben. Eine irgendwie verarmte weiße Landbevölkerung eben.
Die Joads sind die Helden in John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ von 1939, einem sozialkritischen Roman, der die Vertreibung kleiner Landpächter durch Dürre, Industrialisierung der Landwirtschaft und Spekulation beschreibt. Beeindruckend inszeniert Regisseur Rafael Sanchez das Stück nach der Digital-Premiere im Dezember 2020 nun auch analog.Der Ort der Familie ist die Vorbühne, hier werden Streitigkeiten ausgetragen und hier sitzt man wackelnd im Truck, der über die Route 66 gen kalifornischen Westen donnert. Die Außenwelt ist auf die dahinterliegende Stufenbühne verbannt, die durch einen Brechtvorhang über Kopfhöhe abgetrennt ist (Bühne: Thomas Dreißigacker). Dort treten der Familie martialische Sheriffs entgegen und verweigern die Einreise in Städte; dort begegnet sie Kontraktoren, die ihr ausbeuterische Arbeitsverträge anbieten; dort findet sie vorübergehend Unterschlupf in einem staatlichen Camp und erlebt blutige Arbeitskämpfe. Es waren die guten alten Zeiten, als das Wort „Kommunist“ noch identisch mit Landesverrat war. Vor allem Seán McDonagh als Tom, Katharina Schmalenberg als Ma und Stefko Hanushevsky als Pa überzeugen mit ihrem bärbeißigen rustikalen Charme.
Doch was soll uns das heute sagen? Die mehrfach zu hörende Glorifizierung des armen kleinen Mannes und ehrlicher Arbeit (samt keimender Wut) hat sich heute zu einer White Supremacist-Haltung der Angry White Men verdichtet. Die im Programmheft vorgetragene These, dass es in Coronazeiten gerade die verarmten Schichten treffe, unterschlägt, dass dazu in den USA vor allem Schwarze und Hispanics gehören. Und das inneramerikanische Go West der Familie Joad mit eigenem LKW ähnelt – verglichen mit heutigen Migrationserfahrungen –einer Luxusreise. Blieben also noch Landwirtschaft und Hunger: Das Gegenbild zur Vertreibung der Joads durch Großgrundbesitzer bildete Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft in der UdSSR Anfang der 1930er Jahre und der vorsätzlich herbeigeführte Hungertod von Millionen Ukrainern. Und die im Stück beklagte Industrialisierung der Landwirtschaft, Stichwort:Traktor, scheint heute, trotz Klimakatastrophe, eines der wenigen Mittel gegen den weltweiten Hunger zu sein.
John Steinbecks Roman mag ein Meisterwerk und historisches Dokument sein, doch Anstöße für eine Analyse der Gegenwart kann er kaum liefern. Rafael Sanchez’ trotzdem erstaunlich gelungene und unterhaltsame Inszenierung hat etwas von einem Spielfilm der 1950er Jahre. Den sozialkritischen Idealismus seiner Vorlage überführt er in ein überzuckertes, auch mal ironisch gepudertes Unterhaltungsangebot mit heute allerdings ziemlich unerträglichem Personal. Nein, mit der Familie Joad möchte man eigentlich nichts zu tun haben.
Früchte des Zorns | R: Rafael Sanchez | Schauspiel Köln | 8., 11., 12.2. 20 Uhr | 0221 22 12 84 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Schuld der Vorfahren
„Aus dem Schatten“ in Köln
Zeitdiebe auf freiem Fuß
„Momo“ am Schauspiel Köln
Lang lebe das Nichts
„Der König stirbt“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/24
„Familie ist immer ein Thema“
Regisseur Rafael Sanchez und Dramaturgin Sibylle Dudek über die Spielzeit 2024/25 am Schauspiel Köln – Premiere 07/24
Zum Rasen verdammt
„Ein von Schatten begrenzter Raum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Bitte keine Zuversicht
„Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Auftritt 05/24
„Ein interdisziplinäres großes Theaterhaus für die Stadt“
Die Dramaturgin Stawrula Panagiotaki übernimmt die Leitung der Studiobühne – Premiere 11/23
Erziehung zur Empathielosigkeit
„Das große Heft…“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 05/23
Fremdheit und Kakteen
„Once I lived…“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 10/22
„Mir geht's schlecht, also habe ich recht“
„Der eingebildete Kranke“ am Schauspiel Köln – Premiere 10/22
Anzapfen der Emotionsbanken
Ersan Mondtag inszeniert „Wut“ von Elfriede Jelinek – Auftritt 11/20
Schussbereite Romantik
„Der Reichsbürger“ in der Kölner Innenstadt – Auftritt 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Freude und Bedrückung
35. Vergabe der Kölner Tanz- und Theaterpreise in der SK Stiftung Kultur – Bühne 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
„Andere Realitäten schaffen“
Dramaturg Tim Mrosek über „Kaputt“ am Comedia Theater – Premiere 12/24
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24