Mittwoch, 4. Juli: Dass ihn die Palästinenser-Siedlung Jenin am Ende so sehr beschäftigen würde, dass er drei Filme dort drehen und sich auch persönlich vor Ort engagieren würde, hätte sich Marcus Vetter zu Beginn selbst nicht träumen lassen. Bei der ifs-Begegnung im Filmforum mit Simone Stewens beantwortete der Autor und Regisseur detailliert die Fragen der Filmschul-Professorin und erklärte dem gebannt lauschenden Publikum, wie er 2007 eher durch Zufall in das Projekt „Das Herz von Jenin“ involviert wurde. Sein israelischer Co-Regisseur Lior Geller war während der Intifada 2002 als Panzerkommandant an der Aktion beteiligt, bei der die Stadt Jenin zu weiten Teilen dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie galt als Hochburg des palästinensischen Terrorismus. Geller begann in den Folgejahren ein Filmstudium und hegte den Wunsch, über Ismael Khatib einen Film zu drehen – einen Palästinenser, der 2005 seinen zwölfjährigen Sohn durch israelische Soldaten verlor, die ihn und seine Spielzeugpistole als Gefahr einstuften und auf offener Straße erschossen. Ismael entschloss sich dazu, die Organe seines Sohnes zu spenden, Empfänger waren israelische Kinder, die Aktion deswegen stark politisch aufgeladen. Erst durch das Einspringen des Fernsehsenders SWR gelangte das Filmprojekt über die Tat 2007 schließlich in trockene Tücher, der SWR brachte Vetter mit an Bord.
Simone Stewens bemerkte, dass der Regisseur „durch den Film zu einem politischen Akteur geworden“ sei. Er selbst entschied sich nach den Dreharbeiten, vor Ort ein soziales Jahr zu absolvieren, aus dem schließlich drei wurden. Da es ihm ein Anliegen war, der Stadt Jenin etwas zurückzugeben, gründete er dort einen Verein, um das „Cinema Jenin“ ins Leben zu rufen. Über diese Aktion gibt es mittlerweile ebenfalls einen Film, der derzeit in den Kinos zu sehen ist. Stewens mutmaßte, dass den Palästinensern mit der Eröffnung des Kinos im August 2010 ein Stück kulturelle Identität zurückgegeben worden sei, aber Vetter relativierte dies umgehend. Bislang sei es zunächst „ein Stück Hoffnung, die kulturelle Identität muss sich erst noch herausbilden.“ Für den Regisseur ist das Kino, das erst noch darauf wartet, dass dort regelmäßige Programme stattfinden können, ein Symbol, das von den Jeninern umkämpft werden muss. Wie einstmals die Israeliten die Solidarität der Welt benötigten, um ihren eigenen Staat gründen zu können, brauchen nach Vetters Meinung nun die Palästinenser eine solche internationale Verbundenheit. Seine Filme können ein Stückweit dazu beitragen, weil sie zeigen, dass nicht jeder Palästinenser ein Terrorist ist. „Israelis sind heute so sehr abgeschottet, dass sie kaum mehr die Gelegenheit haben, Palästina kennen zu lernen. Die Angst davor wird deswegen immer größer. Mit Filmen wie ‚Das Herz von Jenin’ kann diese Tendenz wirkungsvoll ausgehebelt werden.“
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