Die Bühne ist nackt. Ein sehr angenehmer, fast aphrodisierender Geruch liegt in der Luft. In dieser Abendstimmung, mit vier Menschen und nichts als einem Stuhl im Halbdunkeln, greift bald die beißende Eifersucht um sich. Die Figur des Hilarion aus dem Ballettklassiker „Giselle“ gibt der Performance, die Gustavo Gomes als zweiten Teil seiner dreiteiligen Reihe „Theater of Apophenia“ in der Tanzfaktur inszeniert, ihren Namen. Der Verheiratete ist voll Verlangen nach dem Verbotenen. Die Protagonisten in Gomes Premierenstück (30.6.) aber sind keine Personen, sondern eher die im Liebeswahn waltenden psychologischen Kräfte: Begehren, Anziehung, Hemmung und Täuschung. Der international tätige Choreograf, Performer und Filmkünstler aus Brasilia interessiert sich für die Interpretationsräume zwischen Zufall und Bedeutung. Für seine Forschung an fruchtbaren Verbindungen zwischen Theater und Apophänie – dem zwanghaften Erkennen und Deuten von Zeichen in der Umwelt – ist er für 2024 mit dem Künstlerstipendium der Bundesregierung ausgezeichnet worden.
„Hilarion“ entwickelt sich entlang einer Narration, die griffig ist, ohne plakativ zu sein. Theatralische und musikalische Elemente, sowie die wirkungsvolle Einarbeitung des gesprochenen Wortes verleihen dieser modernen Tanzperformance größere Anschaulichkeit. Das Publikum kann das Stück sozusagen querlesen: Zwischen vier Individuen in selber Emotion – oder auch einer Person und vier Körpern – erhebt sich über alle Einzelszenen eine einheitliche Geschichte, deren Erzählfäden beim Choreografen selbst zusammenlaufen. Er steht als Performer auch auf der Bühne, jedoch oft hintergründig, abgewandt, und dennoch kumuliert alle Energie um ihn. Es sind seine Geschichten, Gespenster und Ängste. Der inhaltlichen Kontinuität stehen viele Brüche in der Form gegenüber: Die Frau, die gerade noch die apersonale Verkörperung von Lust war, rotgetaucht, zerreißt den sinnbildlich aufgeladenen Raum plötzlich mit ihrer Sprechstimme. Was, wenn sich ihr Verlobter auf Geschäftsreise mit einer anderen vergnügt? Wechsel. Im Burgerladen entbrennt ein Beziehungsstreit zweier Frauen um Vertrauen und Achtung. Wechsel. Ein liegender Mann wird symbolisch von seiner eigenen Eifersucht aufgefressen.
Sehr gegensätzliche Darstellungen wie die symbolische Verdichtung in einer Tanzgeste gegenüber einer dialogischen Alltagsszene bleiben aufgrund der dramaturgischen Genauigkeit trotzdem verbunden. Vor allem die fast kinematographische Lichtgestaltung sorgt für exakt gesetzte Aufmerksamkeitspunkte – obgleich jede Szene mindestens einen Kontrapunkt im Bühnengeschehen hat. Gomes meistert damit einen einfachen, aber magischen Grundsatz aus der Handwerkskiste zur Bühnenkunst und verzichtet auf das Ostentative. Stattdessen erforscht er das Konzept der Counterbalance (dt.: Gegengewicht) und erzählt genau über die vielsagende Kluft, die entsteht, wenn Aussage und Geste oder zwei Parallelhandlungen irritierend versetzt wirken: Animalisch getanztes Leid, zuckend und zeichenhaft, hat drei Meter neben sich die intime Realsituation eines live gesungenen Abschiedsliedes.
Und am Ende herrscht dann Gleichklang über alle klug gesetzten Kontrapunkte. Vogelgezwitscher schält sich aus dem verebbenden Applaus heraus. Es ist Morgen. Und die Atmosphäre still und bedächtig, obwohl Brutalität und Schmerz und Wahn offenliegen.
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