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Lieber nackt am Meer als 9 to 5 im Büro
Foto: Benni Klemann

Ich arbeite, also bin ich

26. Januar 2017

Viele wollen raus aus dem Hamsterrad, verharren aber in Angst – THEMA 02/17 WELTFLUCHT

Die Sinnfrage stellt sich für Menschen unserer Breiten eigentlich nur noch im Zusammenhang mit Arbeit. Ist das schon alles? Jeden Morgen zur gleichen Zeit aufstehen, jeden Tag in dasselbe Büro, acht Stunden abreißen, mit Kollegen verbringen, die man sich nicht ausgesucht hat, statt die Zeit – Lebenszeit! – mit Menschen zu verbringen, auf die man auch wirklich Bock hat. Und dann ist da noch dieses nagende Gefühl, dass irgendwie der Sinn fehlt, beim Staubsauger Verkaufen, Anlageberaten oder PR-Texte Verfassen.

Nicht wenige werden behaupten, das sei ein Luxusproblem. Immerhin haben sie Arbeit. Und wer Arbeit hat ist zumindest auf den ersten Blick klar im Vorteil: regelmäßiges Geld, das gerne ein bisschen mehr sein könnte, Ansprüche auf eine Rente, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und für Angestellte und Arbeiter in tarifgebundenen Betrieben gibt es auch noch Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Besonders Verwöhnte freuen sich auch noch über vermögenswirksame Leistungen, einen Dienstwagen oder Boni, die manchmal das Einkommen mehr als verdoppeln.

Dennoch, die nagende Sinnfrage, die vor allem bei abhängig Beschäftigten auftritt, kommt meist nicht weit. Der innere Dialog, ob man sich verändern will, scheitert meist schon an der ersten Hürde: dem Thema Finanzen.Allein der Gedanke, heute nicht genau zu wissen, wie es nach einer Karriereflucht mit dem Wohlstand weitergeht und was wir an Altersrente zu erwarten haben, löst Unbehagen aus. Plötzlich erscheint die eigene Unzufriedenheit in neuem Licht: Nein, so schlimm ist es dann doch wieder nicht. Und überhaupt sollte man dankbar sein, Arbeit zu haben.

Dennoch bewundern wir (insgeheim) diejenigen, die ihre schnöde Karriere aufgeben, um etwas Sinnvolles zu tun. Wie beispielsweise Tobias Schlegl, der den feinen Moderationszwirn bei „aspekte“ 2016 gegen Mundschutz und Stethoskop getauscht hat, und sich zum Notfallsanitäter ausbilden lässt. Nach einer durchaus beachtenswerten 21-jährigen Radio- und TV-Karriere, die den früheren Viva-Moderator bis in die Belleetage des TV-Feuilletons brachte, schmeißt Schlegl die Brocken hin und wird die kommenden drei Jahre weniger als 1000 Euro im Monat überwiesen bekommen. Bei aller Bewunderung, ein echter Ausstieg ist auch Schlegls Schritt nicht. Statt Karriereverweigerung wechselt er nur den Apparat für den er sich in Zukunft ausbeuten lassen will und wird. Grundsätzlich bleibt er ein Rädchen in der Maschine.

Lebenskluge Menschen, die ohne schlechtes Gewissen nichts tun, gibt es aber. Ihnen ist Müßiggang, Freizeit und reine Unterhaltung noch was wert. Die sogenannte Unterschicht ist, wenn es um die Karriereverweigerung geht, allen anderen um Längen voraus. Während sich der deutsche Bildungsbürger für jede außerdienstliche Regung eine Ausrede einfallen lässt, geht es in der Unterschicht pragmatisch und ohne falsche Scham zur Sache: Es wird konsumiert, wo immer sich das machen lässt, ist müßig, wann immer sich die Gelegenheit bietet. „Demonstrativer Konsum“ lautet ihre Leitkultur: Ballermann, Good Bye Deutschland, Playstation, Arschgeweih, Einkaufszentrum…

Die intellektuellen Kritiker der Arbeitsgesellschaft haben es nicht so weit gebracht. Sie nörgeln am System herum, kritisieren das Wachstum und seine – vermeintlich schlimmen – Folgen, also alles, was den potenziellen Müßiggang in der entwickelten Konsumgesellschaft erst möglich macht. Die alte Leistungsklasse fürchtet Karriereverweigerung/Müßiggang, weil sie ahnt, dass dahinter auch der Untergang steckt. Daher gilt weiterhin: Wer schwitzt hat Recht, gesegnet seien die Gestressten.

Der überwiegende Teil derer, die sich bereits Gedanken über die Karriereflucht gemacht haben, verharren derweil in Angst. Angst vor dem Verlust von Dingen, die wir im Laufe unserer Erwerbsbiografie angesammelt haben, Angst vor dem Abstieg, Angst davor, die Miete, die Kredite, die Versicherungen und das Auto nicht mehr bezahlen zu können. Angst, Ansehen zu verlieren. Angst ins Jobcenter zu müssen. Diese Angst ist der größte Motor des Kapitalismus. Sie ist letztendlich nichts anderes, als ein Vorbote der Todesangst, die eine berechtigte Angst ist. Schließlich wird der Tod uns alle ereilen. Da können wir so viel arbeiten wie wir wollen. Arbeit wird uns nicht unsterblich machen – auch wenn wir es noch so sehr hoffen.


Lesen Sie weitere Artikel 
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema

Aktiv im Thema

www.hausbartleby.org | Zentrum für Karriereverweigerung und gemeinnütziger Verein in Berlin, der ein neues Verständnis von Arbeit und gerechterer Wirtschaft erarbeiten will
www.idealist.org | Internationale Jobbörse, die IdealistInnen in nachhaltige Projekte weltweit vermittelt
www.staemme-koeln.de | Kölner Vereine, Stammtische und Interessengemeinschaften, die sich das Leben früherer Kulturen zum Hobby gemacht haben

Thema im März FREMDKÖRPER
Nicht Behinderte sind das Problem, sondern die Gesellschaft, in der sie leben
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Bernhard Krebs

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