An einem lauschigen Sommerabend beim Orangerie-Theater im Volksgarten warten zahlreiche Gäste des zweitägigen Theaterpreis-Festivals gespannt auf die Vorführung. Am ersten Abend standen „absent.faces“ von Coop05 und „Der Prozess“ von Killer&Killer auf dem Programm. Ersteres behandelt Kraft und Magie unbewusster Bilder. Eine junge Frau erkennt in einem Bild der japanischen Künstlerin Leiko Ikemura den Schmerz ihrer Urgroßmutter wieder, der zugleich ihr eigener ist. Aus dem Unterbewusstsein steigen Töne empor, die sich zu einer neuen Sprache verbinden.
„Der Prozess“ hingegen zeigt eine Adaption von Franz Kafkas Roman „Der Prozess“, in dem ein Bankangestellter ohne Grund inhaftiert wird und zermürbend über seine mögliche Schuld nachgrübelt. Die inszenierenden Schwestern Sophie und Thalia Killer erklären: „Wir sind große Kafka-Fans. Das Thema von ‚Der Prozess‘ ist zeitlos und sehr aktuell. Es spricht uns politisch aus der Seele, aber auch psychologisch. Das lässt sich nicht trennen, es geht uns sehr nahe. Unser Zugang ist durch die persönliche Annäherung beeinflusst.“
Zwei Performer, eine Schauspielerin, ein Tänzer und ein Musiker haben eine multidimensionale Version entwickelt, in der Szenen sich in- und übereinander entwickeln. „Jeder kann sich in dieser Situation wiederfinden, jeder kennt diffuse Schuldgefühle“, erläutern die Schwestern. „Wir haben Romanstellen ausgewählt, die uns wichtig waren. Die Choreografie wurde durch Improvisation erarbeitet. Das Team hat engagiert mitgewirkt, jeder hat seine eigene Geschichte eingebracht.“
Das Publikum stieß das Stück auf Beifall. „Es war eine tolle tänzerische Leistung. Einige Dialoge waren großartig“, findet Christiane Leske, regelmäßige KunstSalon-Besucherin. „Es war furios, innovativ und gibt zu denken.“ Auch „absent.faces“ wurde gelobt, das Thema des sexuellen Missbrauchs ruft nachdenkliche und betroffene Reaktionen hervor.
Insgesamt 16 freie Theaterproduktionen hatten sich für den Förderpreis beworben, ein dreiköpfiges Gremium traf die Vorauswahl.
Dazu Festivalleiterin Sarah Wiechers: „Bei der Auswahl gab es strukturelle, ästhetische und Querschnittskriterien. Wie ist die schauspielerische und tänzerische Umsetzung? Wie wird der Raum genutzt? Sind es neue Formate? Anliegen ist, die Vielfalt der Szene abzubilden.“
Das vom KunstSalon e.V. veranstaltete Theaterpreis-Festival fand zum zweiten Mal statt, dessen Vorsitzender Andreas C. Müller erklärt: „Wir wollen die junge Szene fördern und zeigen, was Theater alles kann. Wir wollen die Menschen ins Gespräch bringen darüber, was Kunst in ihnen auslöst, was ihre Assoziationen sind. Das Preisgeld von 5000 Euro ist nur ein Teil des Budgets. Die Herausforderung ist, Förderer zu finden. Aber wir wollen auf jeden Fall weitermachen.“
Am zweiten Abend präsentiert das theater-51grad „Blur – 6 Miniaturen zur Unschärfe“, genauer gesagt zwei der sechs von Sergej Maingardt konzipierten Miniaturen. Regisseurin Andrea Bleikamp kündigt an, den gesamten Zyklus Ende 2019, Anfang 2020 zu zeigen. Im dunklen Orangerie-Theater schauen die Gäste, in Sitzsäcken liegend, auf Videoinstallationen von Jens Standke. Schauspieler Fabian Ringel untermalt das Bild- und Ton-Feuerwerk mit eindringlichen Texten von Rosi Ulrich. „DELTAx_PHYSIK“ thematisiert die von Werner Heisenberg postulierte Unschärferelation, mischt Einblicke in sein Leben (u.a. die Liebe zu Adelheid von Weizsäcker) mit Gedanken zur Atomphysik und dem Wesen von Elementarteilchen.
Das Ganze ist intellektuell anspruchsvoll, die visuellen, auditiven und philosophischen Impressionen bleiben dem Motto entsprechend vage. Die mit Prismafiltern, Spiegelungen und Effekten bearbeiteten Videobilder wiederholen sich nach einiger Zeit. Dennoch ist diese Miniatur deutlich besser als „Paralyzed_PSYCHOLOGIE“, das sich um mangelnde Zivilcourage dreht. In einem überbuchten Flugzeug wird ein Passagier mit Gewalt entfernt, während andere Fluggäste mit dem Handy filmen, jedoch nicht eingreifen. Der Text reflektiert die Angst des Einzelnen, sich zu exponieren. Paulo Álvares, Professor für neue Musik, traktiert den Konzertflügel atonal und mit Schlägen, setzt Gewalt musikalisch um. Doch die Verbindung überzeugt nicht wirklich, die Handyclips aus dem Flugzeug sind dürftig, einige Zuschauer beklagen die Lautstärke.
Während eine Jury aus Künstlern und Kunstexperten in einstündiger Diskussion den Sieger ermittelt, entscheidet das Publikum via Stimmzettel ebenfalls mit. Das Warten wird vom Sächsischen Schweiz Kollektiv mit tierischen „Walk Acts“ sowie der Sängerin Corinna Bahia kreativ verkürzt. Bei der Preisverleihung wird „Der Prozess“ von Killer&Killer zum Sieger gekürt, mit der Begründung, dass schauspielerische Umsetzung, Bühnenbild, Nutzung des Raumes, Einbeziehung der Zuschauer sowie Schauspiel und Tanz überzeugt hätten. Die Energie sei mitreißend gewesen. Dazu Andreas C. Müller: „Bei der Entscheidung deckte sich das Urteil der Jury mit der Publikumsmeinung.“ Anschließend feiern Künstler und Zuseher mit Sekt in die laue Sommernacht hinein: ‚Knuffig‘ würde der Kölner sagen.
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