Abschlussproduktionen an Schauspielschulen sollen vor allem eines beinhalten: Ansehrollen für die Absolvierenden, mit denen sie sich zeigen können. „Der Nachbar des Seins“ lautet der Titel der Abschlussproduktion der Theaterakademie. Sie bietet nicht nur repräsentative Rollen, sondern fordert den jungen Schauspieler:innen auch einiges mehr ab. Regisseurin Annette Müller gesteht, dass die Adepten „extrem viel lesen“ mussten – dafür waren sie auch intensiv an der Stückentwicklung beteiligt. Vor allem aber mussten sie eine Haltung entwickeln zu historischen Figuren wie Hannah Arendt, Martin Heidegger und Gustaf Gründgens; nicht gerade die einfachsten Gestalten des an merkwürdigen Figuren reichen 20. Jahrhunderts.
Die Idee ist entstanden aus der Feststellung, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine eigentlich ein Konflikt des 20. Jahrhundert sei, so Annette Müller. „Ich muss ins vergangene Jahrhundert zurück, um zu verstehen, wer wir eigentlich sind“. Und da boten sich die Großintellektuellen Hannah Arendt und Martin Heidegger als Figuren unmittelbar an: die eine als politische Denkerin und Philosophin der Geburtlichkeit, der andere als Begründer der Existentialphilosophie. Es soll aber nicht zum wiederholten Mal die Liebesgeschichte der beiden breitgetreten, sondern ihre gedanklichen Positionen konfrontiert werden.
Die Produktion bedient sich Originalinterviews aus den 1950er bis 1970er Jahre, wie dem legendären Gespräch von Günter Gaus mit Arendt, dem Interview von Rudolf Augstein mit Heidegger oder einem Gespräch aus der Spätzeit von Gustaf Gründgens, in der er der Nazizeit „wenig Realität“ zuschreibt. Transformiert werden diese „Gesprächsformate in seltsame Formate“, wie Annette Müller sagt. Ein Reenactment, das mit expressionistischen und grotesken Mitteln in die Verfremdung getrieben werden soll. Der Blick von heute fällt dabei durch das Fenster der Nachkriegszeit auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. So soll ein Abend entstehen, den man durchaus als eine Beschwörung der Geister des 20. Jahrhunderts beschreiben könnte – mit einem Zug zur Revue, die auch die Komik nicht verschmäht. Um zu vermeiden, dass daraus am Ende ein Abend des alten weißen Mannes wird, hat Annette Müller die Rollen mit weiblichen, nicht-binären und Transpersonen besetzt.
Der Nachbar des Seins | R: Annette Müller | 29.6. bis 2.7. | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
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