Wer behauptet, ältere Menschen hätten kein Recht auf eine Zukunft und kämen mit den neuen technischen Herausforderungen durch Corona nicht klar, sollte etwa Ethel Schmidt-Wiking kennenlernen. Lässig sitzt die 85-Jährige zwar mit Mundschutz, aber untendrunter lächelnd in der virtuellen Pressekonferenz des diesjährigen Sommerblutfestivals. Überhaupt sollte man sich das nunmehr 19. Festival der Multipolarkultur vom 8. bis 24. Mai im Internet anschauen. „Wir lassen uns von diesem Virus nicht einschüchtern“, sagt Rolf Emmerich, Leiter desinklusiven Festivals, wenngleich die Gesundheit vorgehe. Ein Schwerpunkt ist traditionell der soziale Zusammenhalt und die Menschlichkeit, weshalb es auch nicht abgesagt, sondern nur virtuell verlegt wurde. Der Ort des Geschehens heißt nicht mehr Köln, sondern World Wide Web.
Das fiktiv angedachte Thema lautete ursprünglich „Zukunft“ – diese ist durch Corona nun tatsächlich in der Realität angekommen. Und damit der traurig anmutende Aspekt des in der Technik gefangenen Menschen: Einige der geplanten Projekte finden digital statt. Darunter „Damengedeck 2:0“, ein Stück des Seniorenheimes„Residenz am Dom“ in Form eines Rundganges durch jenes. Das Motto dabei: „Die Zukunft ist weiblich.“ Schließlich kann Frau auch im Alter noch für ihre Rechte kämpfen, wie Schmidt-Wiking als sagenhaft jüngstes Mitglied lachend sagt. Innovativ an dem Stück unter der Projektleitung von Hanna Behr und der Regie von Ruby Behrmann, ist, dass Älteren ein Ausblick auf die Zukunft gestattet wird, statt sie wie so oft zurückblicken zu lassen (15. - 20.5. je 18 Uhr).
Kontrastiv dazu mutet das Programm an anderer Stelle an, als habe man es extra auf die Krise gemünzt. So ähnelt Oleg Zhukovs Jugendtheater-Stück „14,2 x 3,4 x 5,5“, dessen Titel die Maße eines Raumes sind, auf unheimliche Weise der sozialen Distanz-Thematik, als hätte man die Zwangsisolation gerochen. Nämlich: Was geschieht, wenn Menschen mit ihren Angehörigen in einer Wohnung oder mit Fremden in einem Bunker eingesperrt werden? (Live Audio Walk: 21. – 23.5. je 16, 17:30 u. 19 Uhr).
Eine Chance der Pandemie könnte es sein, dass so Missstände besser an die Oberfläche geraten. Etwa in puncto Gleichberechtigung – nämlich, wie sehr Frauen durch systemrelevante Berufe sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft stemmen.Zeit also, ihnen ein Projekt zu widmen wie„We are here to stay!“ vonAna Valeria Gonzalez: Geballte Frauenpower, die es nun in Form eines interaktiven Hörspiels auf die Ohren geben wird. Es untersucht die soziale Zukunft von Frauen unterschiedlicher Herkunft und Sexualität (9., 12., 13.5. je 19.30 Uhr).
Das „Future X. - Society Lab“ ist nunmehr eine digitale, wenngleich weiterhin integrative Mehrgenerationen-WG. In dem 40-minütigen FilmstelltKimchi Brot Connection die wichtige futuristische Frage: Gilt der Generationenvertrag noch? (22. - 24.5. je 20 Uhr). Passend zu einem der berühmtesten ertaubten Musiker – Beethoven – und just zu seinem Jubiläum gibt es außerdem eine virtuelle musikalische Hommage. „Durch Nacht zum Licht" ist ein futuristisch-poetisches Livestream von und für Hörende und Gehörlose (12., 14., 16.5. je 20 Uhr). Und vieles mehr, das auf wundersame Weise vor Corona ins Internet gerettet wurde, ohne das Menschliche zu vergessen.
Sommerblut – Festival der Multipolarkultur | 8.5. - 24.5. | www.sommerblut.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Gezielt helfen
Ingrid Hilmes von der Kölner Kämpgen-Stiftung – Spezial 05/24
Queere Revolution?
Das Sommerblut Kulturfestival 2024 in Köln – Prolog 05/24
Für mehr Sichtbarkeit
„Alias“ am Orangerie Theater – Prolog 05/23
Angst als kreativer Faktor
Das Sommerblut Kulturfestival 2023 beschäftigt sich mit Angst – Premiere 05/23
Radikale Empathie
Sommerblut-Kulturfestival – Festival 05/22
Verwundet in die Welt
„Knock Out“ in der JVA Köln-Ossendorf – Bühne 12/21
„Wenn ihr unsere Welt mitkriegen wollt, dann macht mit!“
Mad Pride am Pfingstmontag als Auto- und Fahrrad-Demo – Interview 05/21
Kultur und Natur
Digitales Sommerblut-Festival ab 7. Mai – Festival 05/21
Alle inklusive
Festival „All In“ von Un-Label in der Alten Feuerwache – Festival 10/20
„Teilhabe von Anfang an“
Initiative X-SÜD will ein inklusives Kunsthaus Kalk – Interview 10/20
Nähe und Abstand
Ausblicke für Ältere und eingeschlossene Jüngere bei Sommerblut 2020 – Festival 05/20
Buntes Überleben
„Youtopia – Eine ÜberLebensPerformance“ bei Sommerblut – Festival 06/19
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24