Wenn man den Namen „14,2 x 3,4 x 5,5“ (Premiere 21.5.) hört, denkt man als corona-geschädigter Mensch vermutlich, dies bezöge sich auf ein Mindest-Abstand-Maß in einem Supermarkt, die Größe einer Maske oder vielleicht auch auf den Umfang eines Gesichtes. Schauriger Weise ist es aber der Titel eines Stückes, das bereits vor der Krise entstand. Mit Maß lag man aber trotzdem nicht ganz falsch, bezieht es sich doch tatsächlich auf die Größe eines Zimmers. Als hätte Regisseur Oleg Zhukov die aufgezwungene Absperrung auf gespenstische Weise vorprognostiziert, stellt er in jenem die spielerische Frage: Was passiert, wenn Menschen mit ihrer Familie oder mit Fremden in einem Raum eingeschlossen werden? Wenn wir unserem eigenen Ich begegnen, uns selber ertragen müssen? Sowie: Wie verhalten sich Individuen, wenn sie auf Gruppen stoßen und ihre Singularität aufgeben? Herausgekommen ist ein spannender Live-Audio-Walk, in welchem das Publikum auf einen darstellerischen Rundgang durch eine bizarre Welt mitgenommen wird. In diesem Fall sind es die Stimmen Jugendlicher, die den Zuhörer an die Hand nehmen oder vielmehr ins Ohr geflüstert werden. Die jungen Menschen sitzen dabei an verschiedenen Stellen der Stadt. Hinauswagen darf sich niemand. Ähnlich wie bei den Auflagen durch Corona. Langsamkeit als tänzerische Performance.
Gleichzeitig beinhaltet das Thema vieles, das in Krisenzeiten tatsächlich auf die Menschheit zukommt, hat Covid-19 jene doch vor verschiedene Probleme gestellt: Junge Menschen wurden dazu aufgefordert, zuhause zu bleiben und keine Gleichaltrigen zu treffen. Kein Austausch für Pubertierende. Wir alle wurden auf uns selbst zurückgeworfen. Doch wer sind wir eigentlich, was wollen wir, und halten wir es überhaupt mit uns aus? Ältere und Risikogruppen mussten hingegen aus Rücksicht geschützt werden. Doch was ist nochmal Mitgefühl? Gleichzeitig drohte dadurch noch mehr Isolation für eine Generation, die sowieso häufig auf das Abstellgleis gestellt wird. Während jene sich parallel an neue technische Herausforderungen heranwagen musste, wurde stets betont, gerade für Ältere seien echte Berührungen im wahren Leben wichtig.
Auf ironische und gleichsam bedrückende Weise ist somit das einstige Thema „Zukunft“ des nunmehr 19. Festivals der Multipolarkultur, das in der Vergangenheit geplant wurde, aufgrund von Corona tatsächlich in der Realität – im Hier und Jetzt – angekommen. Das ehemals Futuristische – das Thema „Mensch versus Maschine“ – hat die Gegenwart von hinten gepackt und überrollt. Schuld war jedoch kein Roboter, sondern ein Virus. Und statt des Vorurteils, die Zukunft müsste stets schnell und in Hyper-Perfektion dahergerast kommen, tastet diese sich sehr langsam heran und bremst uns sogar aus. Wer hätte das gedacht? Für das Sommerblutfestival, bei dem traditionell ältere Menschen oder solche mit Behinderung selbstverständlich einbezogen und gleichberechtigt sind, also eine große Herausforderung. Wie geht man damit um? Indem man sich etwa nicht unterkriegen lässt und es nicht absagt. Vielmehr wurde das integrative Festival, das vom 8. bis 24. Mai stattfand, unter der Leitung von Rolf Emmerich mit viel Aufwand, Sensibilität und Flexibilität größtenteils ins Internet verlegt. Denn schließlich ist es ein soziales Projekt, bei dem seit Jahren das Menschliche im Vordergrund steht. Das Ergebnis: eine bunte, fulminante Mischung aus Theaterstücken, Performances, interaktiven Hörspielen und Filmen. Der Austragungsort: das Internet.
Etwa „Damengedeck 2.0“ (Premiere 15.5.) – ein Zukunftslabor unter der Leitung von Hanna Behr und Ruby Behrmann: eine nunmehr virtuelle Konferenz via Tour durch das Seniorenheim „Residenz am Dom“. Dem Klischee zum Trotz, dass Älteren – maximal – ein klitzekleiner Lebensrückblick gestattet werden sollte, ein erfrischend futuristischer Ausblick – auch oder gerade für Ältere. Wenngleich die jeweilige Vergangenheit der Bewohnerinnen auch zur Sprache kam. Unter den Darstellerinnen die 85-jährige Ethel Schmidt-Wiking. „Ich habe schon traumhafte Zeiten erlebt und kuriose,“ sagt diese. An anderer Stelle kommentiert sie lachend, dass sie schon Männer und Kriege überlebt hat. Was soll Corona ihr schon noch anhaben? Wenngleich die Digitalisierung natürlich für alle Beteiligten eine große Umstellung war. Diese Damen haben sich auf ihren gemeinsamen realen Auftritt gefreut.
Nun sitzen sie verkabelt, jede einzeln streng überwacht, in einem Raum. Aber Schmidt-Wiking hat schon ganz andere Dinge erlebt, war sie doch u.a. in einem Gefängnis. Groteskerweise hat sie sich somit in ihrer Vergangenheit bereits mit dem Thema des Weggesperrtseins beschäftigt. Wenn auch nicht als Inhaftierte, sondern im Rahmen eines Projektes, an welchem sie während ihres Ruhestandes teilnahm, besuchte sie ehrenamtlich männliche Straftäter in Gefängnissen. Schmidt-Wiking betont in der virtuellen Aufführung, dass es nicht immer leicht gewesen sei, den Insassen zu vertrauen. Doch diese Männer hätten sich über ein bisschen Damenbesuch gefreut.
Gleichzeitig ist das Stück eine Hommage an Frauen: Warum sollte der Kampf für Frauenrechte auch vor dem Alter Halt machen? So mutet „Damengedeck 2.0“ mal rührend, mal feministisch, mal lustig, zwischendurch traurig, dann gruselig-futuristisch an. Am Ende gibt es virtuellen Applaus und für alle Beteiligten die Möglichkeit, sich etwas für die Zukunft zu wünschen – etwa in Form eines SMS-Chats. Der Zuschauer und ältere Menschen natürlich inklusive.
Apropos Inklusion: Statt Kranke auszuschließen, standen in „Der Mensch von Morgen“ von Gregor Leschig chronisch Kranke – eine weitere gefährdete Gruppe – in berührender Weise im Mittelpunkt, z.B. Menschen, die an Aids erkrankt sind, aber auch Bulimiker, u.v.a. Mehr noch: Innovativ wurden sie hier zu futuristischen Helden erkoren. Ein Stück, in dem echtes Theater auf interessante Weise fiktiven Cyberspace trifft, geht es doch hierbei um eine Reise zum zukünftigen Ich der jeweiligen Avatare eben jener Schauspieler. Die ursprüngliche Idee dabei – eine reale Begegnung zwischen jungen Flüchtlingen und chronisch Kranken zu ermöglichen – wurde zwar aus Schutz vor dem Virus abgesagt, dennoch konnte einiges davon via Live-Stream gezeigt und gerettet werden.
Noch bis zum 27.5. gibt es um 20.10 Uhr das multimediale Live Media-Hörspiel „Stadt#Land#Bus“ (Link) – eine Untersuchungsreise nicht in, sondern aus der Zukunft. Jeden Tag kann der Zuhörer dabei an einer neuen Episode als Live-Hörspiel teilnehmen und sich auf die Suche nach Frieden in Zeiten begeben, in denen manche leider das Friedensgen verloren zu haben scheinen.
Das Sommerblutfestival 2020 – diesmal eher „Sommerblut 2:0“ – hat bewiesen, dass es mit Feingespür und Improvisationstalent gelingen kann, dem alten Affen Angst sozial ein Schnippchen zu schlagen. Das Festival hat nicht die Maschine siegen lassen, sondern den Menschen, wenngleich die Technik als Stütze diente.
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