In der japanischen Stadt Kanazawa drängen sich Schaulustige auf dem Jahrmarkt, um kostümierte Affen, Schwertschlucker und Tänzer zu begaffen. Hauptattraktion ist die bekannte Geisha Taki no Shiraito, die mit kunstvollen Wasserspielen das Publikum begeistert. Bei einer Kutschfahrt wird sie vom Stallburschen Murakoshi Kinya „entführt“ und verliebt sich in den jungen mittellosen Mann, der Jura studieren möchte. Sie schenkt ihm regelmäßig Geld für ein Studium in Tokyo.
So beginnt der japanische Stummfilm „Taki no Shiraito“, zu Deutsch „Die weißen Fäden des Wasserfalls“, aus dem Jahr 1933. Er zählt im Land der aufgehenden Sonne zu den Filmklassikern und beruht auf dem melodramatischen Roman „Giketsu Kyôketsu“ („Nobles Blut, heroisches Blut“) des berühmten Schriftstellers Izumi Kyôka (1873-1939). Das populäre Buch wurde mehrmals verfilmt, so auch 1933 von dem Regisseur Mizoguchi Kenji (1898-1956), der neben Akira Kurosawa und Yasujiro Ozuals als wichtigster Filmemacher Japans gilt, und die Unterdrückung der Frau thematisierte. Seine Stummfilmfassung erlangte internationalen Ruhm. „In den 1920er und 30er Jahren verfügte das japanische Kaiserreich über eine riesige, hochentwickelte Filmindustrie“, erläutert Harald Meyer, Professor für Japanologie an der Universität Bonn. „Da die Stummfilme nur wenige Zwischentitel zur Erklärung hatten, wurden sie von einem Erzähler begleitet, der den Text zur Handlung schrieb und die verschiedenen Rollen vorlas. Dieser Erzähler war wichtiger als die Schauspieler.“ In der Blütezeit gab es über 3.000 Filmerzähler, die Tradition erlosch nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute gibt es nur noch ein Dutzend Benshi, professionelle Stummfilmerzähler. Zu ihnen gehört Kataoka Ichirô, der „Die weißen Fäden des Wasserfalls“ im Japanischen Kulturinstitut auf Japanisch begleitet. Er liest die Frauenparts mit feiner, lispelnder, die Männerrollen mit tiefer, brummender Stimme. Mal laut, mal leise, mal aggressiv, mal weinend versetzt er sich intensiv in die einzelnen Figuren hinein.
„Normalerweise werden japanische Filme auf Englisch untertitelt. In einer zweijährigen Projektarbeit haben Japanologie-Studierende erstmals deutsche Untertitel erstellt“, erzählt Harald Meyer. „Das ist schwierig, denn die kurzen japanischen Sätze sind in der deutschen Übersetzung wesentlich länger. Doch sie müssen zur Handlung passen.“
Als der Winter kommt, bleiben die Besucher aus, die Schaustellertruppe leidet Hunger. Auch Taki no Shiraito hat kein Geld mehr, das sie ihrem Geliebten schicken könnte. Sie begibt sich zu einem skrupellosen Geldleiher und bittet um Geld, das ihr bei einem Überfall gestohlen wird. Als der Wucherer sie vergewaltigen will, ersticht sie ihn. Die Geisha wird vor Gericht angeklagt. „Mit welchem Recht verurteilen Menschen andere?“, so die verzweifelte Taki no Shiraito. Ein neuer Staatsanwalt aus Tokyo übernimmt die Verhandlung – ihr Geliebter. Im dramatischen Höhepunkt steht Murakoshi Kinya vor der Entscheidung, seine Gönnerin zu verurteilen oder Barmherzigkeit zu üben. Diese sucht nur noch den ehrenvollen Tod. Nachdem ihr Geliebter sie verurteilt hat, beißt sie sich die Zunge ab und stirbt. Wenig später begeht der Staatsanwalt aus Verzweiflung über seine menschliche Schwäche Selbstmord.
Die nächste Gelegenheit, den beeindruckenden japanischen Stummfilmerzähler Kataoka Ichirô zu erleben, ist am 17. Januar, 18.45 Uhr im Festsaal der Universität Bonn beim Stummfilm „Gyakuryū – Gegen den Strom“ (1924) von Regisseur Buntarō Futagawa – auch diesmal wieder mit deutschen Untertiteln der Bonner Japanologie-Studierenden.
Info: www.ioa.uni-bonn.de/abteilungen/japanologie-und-koreanistik/workshop-17.1.17
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