Der junge Dirigent zündete ungehemmte pralle Walzerklänge in Ravels „Valses nobles et sentimentales“. Der Debütant lieferte ein Entree mit grellen Farben, klingelnder Celesta (einem Glöckchen-Klavier) und Harfenrauschen, das sich mit dem Dreierschwung nicht immer begnügte und wunderbare rhythmische Spiele exerzierte. Nicholas Collon hieß dieser Mann auch der Neuen Musik, mit exzellenter Schlagtechnik und hervorragender Übersicht, bei dem es sich auch für die Musiker lohnt, hinzugucken. Die schlugen den britischen Dirigenten spontan begeistert für die Position des Ersten Gastdirigenten vor. Ein Vertrag über drei Jahre sichert pro Spielzeit zwei Projekte: Die Chance für das Kölner Publikum, einen weiteren Dirigenten genauer kennenzulernen und vielleicht auch ins Herz zu schließen.
Für solche sentimentalen Regungen sind das rheinische Klassikpublikum und die Abonnenten des Gürzenich-Orchesters im Besonderen bekannt und beliebt. Die geballte Ladung Persönlichkeit am Dirigentenpult erfährt nur der über Jahre und Jahrzehnte wiederkehrende Konzertbesucher, und das ist mit einer der größten Schätze eines städtischen Orchesters: Keine andere Konstellation auf dem Konzertpodium bietet Gelegenheit, ein so intensives Verhältnis zu Orchester und Chefdirigent aufzubauen wie beim Besuch heimischer Institutionen. In Köln besitzen wir den Luxus dank des WDR mit seinen zwei großen Orchestern gleich dreimal – aber in Reinform pflegt dies das Gürzenich-Orchester.
Der aktuelle Platzhirsch heißt hier natürlich nach zwei Spielzeiten François-Xavier Roth. Er hat als Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor sowohl in der Oper - spätestens im Show-Lauf mit Mozarts Figaro – als auch in zahlreichen sensationellen Konzerterlebnissen die Kölner begeistert. Im Abschlusskonzert der vergangenen Saison fraßen die sonntäglichen Matinee-Gäste dem charmanten Franzosen sogar einen schräg klingenden „Lachenmann“ (lebender Komponist) aus der Hand – mit deutlichem Gewinn durch erweitertes Verständnis gegenüber den Geheimnissen der Neuen Musik. Roth überzeugt durch seinen stets uneitlen großen Einsatz für die Musik aus allen Zeiten, und er verliert weder Ziel noch Streckenverlauf aus dem Ohr – selbst bei einem Marathon durch Bruckners Achte.
Als Nebensonne glüht seit vielen Jahren der dem Orchester mehr als freundschaftlich verbundene Dirigent Dmitri Kitajenko, ein „Väterchen Russland“ für die rheinisch stationierten internationalen Musiker des Orchesters. Er betreut die Umsetzung russischer Literatur, hat mehrere Gesamteinspielungen mit dem Kölner Orchester auf CD gebannt und wird von allen Beteiligten sehr geliebt: Er reist seit Jahrzehnten im eingeschworenen Team mit seiner Gattin durch die Klassik-Welt, hat selbst noch mit Schostakowitsch gearbeitet und als Student in St. Petersburg (damals Leningrad) vor seinem Lehrer Sinfonien auswendig dirigiert – ganz ohne Klavier – geschweige denn Orchester-Spieler. Er verfügt über den Musiziergeist aus einer vergangenen Zeit, die gepaart mit seiner Begeisterung für die seelenvollen Klänge seiner Heimat und seinen warmherzigen Führungsstil eine einzigartig anrührende Persönlichkeit ausmachen. Vor wenigen Wochen hat Kitajenko, Jahrgang 1940, aus Altersgründen seine Position als Erster Gastdirigent des Berliner Konzerthausorchesters aufgegeben – als Ehrendirigent kann er hoffentlich noch lange in Köln residieren.
Im Triumvirat der Maestri übernimmt also die sportliche Position des jugendlichen Liebhabers der 1983 in London geborene Collon, dem u.a. durch ein dreimal wiederholtes Abo-Konzert und das Dirigat der Wiederaufnahme von Mozarts „Don Giovanni“ in der aktuellen Spielzeit eine spürbare Präsenz zugestanden wird. Er hat sich seine Meriten mit der Gründung eines eigenen Orchesters in London verdient – hier konzentriert sich das kulturelle Leben ähnlich wie in Paris mit einer unübersehbaren Anzahl bester Orchester. Aber er hat beim Gürzenich bereits ein liebenswertes Alleinstellungsmerkmal entdeckt: „Dieses Orchester ist ein wunderbares Instrument – so flexibel und vielseitig.“ Als erster Erster Gastdirigent dirigiert er die Musiker auch in der Oper. Aus dieser Arbeit rührt die Wandlungsfähigkeit der Kölner, meint der gelernte Bratscher Collon wahrscheinlich mit Blick nach Wien und Berlin: „Die besten Orchester der Welt machen es, und das hat seine Gründe: Es verlangt von den Musikern eine andere Art des Zuhörens, das ist eine ganz besondere Form der Kammermusik. Sie ist elementar für das Musikersein!“
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