Mittwoch, 15. März: Jubiläumsjahr in Russland: Vor hundert Jahren fand die Februarrevolution statt, um dann von der bolschewistischen abgelöst worden zu werden, der Oktoberrevolution. Wer meint, das seien alte Kamellen, der hat eindeutig zu lange geschlafen. Für den Präsidenten der russischen Föderation Wladimir Putin und dem unendlich langen Rattenschwanz von Staatsgewalt, bedeutet das: alle Obacht – alles was nach Revolution riechen könnte, zu entkritisieren. Ein Andersdenker, seicht formuliert, ist der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski: angespornt durch die Verhaftung von Pussy Riot im Jahr 2011, rebelliert er anhand einer radikalen Form des Körperaktionismus, wie sie sonst bei Marina Abramovic bekannt ist. Pawlenski schafft mit seiner Kunst bildgewaltige und drastische Symbole, wie den zugenähten Mund und den nackt in Stacheldraht eingewickelten Körper.
Pawlenski, der selbst von sich sagt: „Ich bringe die Situation der Bürger auf den Punkt“, erhält mit seinen Aktionen viel Aufmerksamkeit, unter anderem auch von Filmemacherin Irene Langemann. Sie stellt ihren Dokumentarfilm „Pawlenski – Der Mensch und die Macht“ im Filmforum vor und erzählt dem vollen Saal vorab, woher sie die Inspiration genommen habe. Gemeinsam mit dem Produzenten Wolfgang Bergmann verfolgt sie seit 2012 Pawlenskis Arbeit und spielt immer wieder mit dem Gedanken, etwas über ihn zu machen: „Im August 2015 habe ich ihn über Facebook kontaktiert und ein Tag später hatten wir unser erstes Skypegespräch. Er war sehr offen und interessiert und sagte: Kommen Sie! Ich bin dann nach Petersburg gereist und habe drei Tage mit ihm gedreht. Sechs Wochen nachdem ich den ersten Dreh hatte, kam Pjotr Pawlenski nach seiner letzten, fast selbstmörderischen Aktion ins Gefängnis und da stand ich vor der Tatsache, dass ich mit jemanden einen Film machen musste, der nicht da ist. Und das war die größte Herausforderung.“
Während der einen Stunde und vierzig Minuten haben sich die Gäste von der Herausforderung in den Bann ziehen lassen, es gibt es einen langen Applaus, Langemann kommt auf die Bühne und bedankt sich. Ohne viel Federlesens bittet sie den anwesenden Teil ihres Teams, an ihre Seite zu kommen, denn sie sind, wie sie etwas putzig formuliert, „wichtige Mitarbeiter, die ganz wichtige Sachen im Film gemacht haben.“ Und das wäre einmal Daniel Langemann – um Fragen vorzubeugen, ihr Neffe – der die Musik komponiert hat, Detlef Schmitz, zuständig für das Sounddesign und Holger Hessinger für die Farbkorrektur und insbesondere die Schattenszenen, die „sehr sehr viel Arbeit waren“. „Und Film ist nicht nur Bild und Ton, da sind natürlich auch sehr viele Zahlen und mit denen kann besonders gut Sabine Gams umgehen.“ Und „last but not least“ stellt sie Bergmann vor. Derjenige, der all die Schwere, die Langemann während des Projekts durchmachte, sehr nah mitbekommen habe. Nachdem viel geklatscht wird, schickt sie ihr Team wieder zurück an die Plätze und begrüßt den Moderator des Abends: Frank Olbert, stellvertretender Leiter der Kulturredaktion des Kölner Stadtanzeigers.
Seine erste Frage erzeugt einen Déjà-vu-Moment: „Wie sind sie eigentlich auf Pawlenski gekommen?“ Huch, erzählte Langemann nicht genau das schon vor Beginn des Films? Hmm doch, etwas ausführlicher wird sie aber: Als Pawlenskis Prozess wegen der Aktion „Freiheit“ beginnt, liest sie in der FAZ einen Artikel über die Beziehung zwischen ihm und dem Untersuchungsrichter. Dieser wechselt die Seite, bricht aus der Polizeistruktur aus und wird Anwalt. „Das hat mich besonders interessiert, das hat natürlich auch eine dramaturgische und filmische Komponente.“
Was war denn eigentlich der erste Eindruck, möchte Olbert wissen. Langemann erinnert sich, dass es ungewöhnlich gewesen sei, sie hätten sehr schnell einen Draht zueinander gehabt und sie sei bald eingeladen worden, zu seiner Frau und seinen beiden Kindern. Langemann sei es gewohnt, dass Protagonisten erst einmal ein gewisses Vertrauen brauchen, ehe sie die Tore zu den privaten Gemächern öffnen. Aber es wäre auch verwunderlich, wenn Pawlenski ein Problem damit hätte.
Beim Anblick der Wohnung muss sie schlucken. Vor allem weil zwei kleine Mädchen auf dem Boden lagen. So etwas hat sie noch nicht gesehen. Und so ergeht es auch den Gästen, eine Dame aus dem Publikum beschreibt, dass sie die Situation der Kinder nur schwer ertragen konnte. Auch Langemann versteht „nicht, warum die Kinder in alles involviert wurden, warum die Kinder nicht in die Schule durften. Das geht überhaupt nicht aus meiner Sicht.“
Ob Pawlenski die Dokumentation schon gesehen hat und wie er reagiert hat, möchte ein Zuschauer wissen. Pawlenski habe ihn im Oktober bei einer Pressevorführung gesehen und Langemann war „sehr nervös, aber er hat den Film sehr gut gefunden, vor allem hat er die visuelle Umsetzung hervorgehoben, die das Unsichtbare sichtbar gemacht hat. Das war für mich das größte Lob.“
Der Film zeigt, dass Pawlenski und seine Frau das Private vom Politischen nicht trennen, das kann beachtenswert konsequent sein oder auch als verantwortungslos radikal ausgelegt werden. Es fällt schwer, sich auf eine Seite zu schlagen. Langemann schafft es, mit ihrer Dokumentation angeregte Diskussionen auszulösen. Sie gibt keine Antworten, sie hinterlässt Fragen. Und das war im anschließenden Umtrunk in den vielen tuschelnden Gruppen hörbar.
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