choices: Frau Kania, in der Ankündigung zur Ausstellung heißt es: „Anhand von Bildwerken, Sound- und Videoinstallationen, Rauminszenierungen und Live-Performances können Besucher:innen die zeitliche Entfaltung von Kunst erleben.“ Das hört sich nach Physikunterricht an. Was erwartet die Gäste?
Elke Kania: Die Gäste erwartet eine Schau, die Zeit sinnlich erfahrbar macht und zudem ein Spiegel unserer Zeit ist. Wir zeigen interaktive Arbeiten wie „The Society“von Elisabeth Heil, es gibt Soundinstallationen in einem üppigen barocken Saal und in einem historischen Kellergewölbe, es gibt Malerei, Zeichnungen, Fotos, Videos, Installationen und natürlich Live-Performances. Die sinnliche und ästhetische Stärke der Kunstwerke macht den Zugang zu einer philosophischen und soziologischen Betrachtung der komplexen Thematik „Zeit“ möglich.
Sie sprechen von einer „Sichtbarmachung der Zeitlichkeit“ in Bezug auf künstlerische Prozesse. Wie kann man sich das vorstellen?
Mich als Kuratorin interessierte hier, wie sich das immaterielle Phänomen Zeit in einer Ausstellung manifestieren lässt. Zum Beispiel anhand der Spuren von bereits stattgefundenen Live-Performances, wie den „geposten“ Selfies bei Elisabeth Heil aus dem Fotoautomaten an der Eröffnung. Andere Performances sind als Video- oder Tondokumentationen gegenwärtig. Auch die Werke selbst behandeln den Ablauf und das Bewahren von Zeit. Die Arbeiten von Christian Aberle entstehen in einem extrem aufwendigen handwerklichen Produktionsprozess, der sich meiner Meinung nach auch auf die Wirkung der Werke überträgt.
Die Arbeiten des Künstlers Christian Aberle sollen die „Seitenverhältnisse von Film bis Social Media in Video und Malerei“ deklinieren. Wie verkopft ist diese Ausstellung?
Überhaupt nicht. Das Video „1694311916“ von Christian Aberle veranschaulicht, wie sich im Laufe der Zeit bildnerische Seitenverhältnisse von der klassischen Malerei bis hin zu den Formaten heutiger Social Media-Anwendungen entwickelt haben. Quasi vom 16:9-Querformat über die Insta-Kachel hin zum TikTok-Hochformat. Das vermittelt intuitiv Medienkompetenz und holt jeden in seiner Erfahrungswelt ab. Die Formate spielen nämlich eine extrem wichtige Rolle bei der Wirkung von Bildern.
Dass Kunstwerke Spiegel ihrer Zeit sind, ist nicht neu. Was macht „Zeit-Bilder.“ außergewöhnlich?
Da gibt es einiges. Das Zusammenspiel von statischen, „traditionellen“ Kunstformen und sich in der Zeit bewegenden Arbeiten in atmosphärischen barocken Räumen würde ich als außergewöhnlich und inspirierend bezeichnen. Der Ort, an dem diese Ausstellung stattfindet, ist selbst eine Art Zeit-Speicher: ein jahrhundertealtes ehemaliges Kloster, das heute zeitgenössische Kunst beherbergt. Zudem durchläuft die Ausstellung einen dynamischen Wandel: Nicholas Grafia inszeniert seine Räume mehrfach neu, in einer Performance neulich übermalte er, begleitet von Live-Musik, eins seiner Gemälde. Die Aktion ist auf Video gebannt und jetzt real als Werk im selben Raum zu sehen.
Welche Rolle spielen die Performances?
Naheliegend wäre es gewesen, ausschließlich Film und Video zu zeigen. Ich wollte jedoch gerade die Vielfalt der Kunstformen, die sich in der Zeit entfalten, vorstellen. Wichtig ist dabei momentan besonders bei jungen Künstler:innen die Performance als Ausdrucksform. In einladenden Szenografien treten nun historische und aktuelle Kunstformen miteinander in einen Austausch.
Ist auch analoge Kunst zu sehen? Oder ist diese Zeit endgültig abgelaufen?
Was ist „analoger“ als der menschliche Körper? In der Ausstellung ist Körperlichkeit in vielfältigen Erscheinungen präsent – abgebildet real im Live-Act und in der Möglichkeit der interaktiven Teilhabe, etwa bei den Arbeiten von Elisabeth Heil. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die Malerei niemals sterben wird. Parallel dazu werden technische Kunstformen wie Video oder KI-generierte Arbeiten weiter eine wichtige Rolle spielen. In der Kunst zeichnet sich derzeit eine Hinwendung zu Textil und Handarbeit ab – oder eben zu Live-Performances mit einem unmittelbaren Erlebnis.
Kann man die „Zeit-Bilder.“ auch als Komödien oder Tragödien verstehen?
Absolut. Mit Verweisen auf unkritischen (Medien-)Konsum, auf prekäre Arbeitswelten, Migration, auf marginalisierte und verfolgte Gruppen liefert die Ausstellung Bestandsaufnahmen unserer Gegenwart, die man als Tragödien bezeichnen kann. Das wird mitunter bewusst als humorvolles Entertainment inszeniert, wie bei der Live-Performance von Nicholas Grafia mit Bezügen zur Popkultur. In Cristiana Cott Negoescus Installation sind brennende Themen ironisch mit einem „Sugar Coating“ versehen, eine orange Leuchtschrift von ihr bringt es auf den Punkt: „We have something for everybody.“ (übers.: „Wir haben etwas für jeden.“, Anm. d. Red)
Die Ausstellung läuft seit Oktober. Sind Sie mit der bisherigen Resonanz zufrieden?
Ja! Und es kommt ja noch mehr: Am 19. Januar findet ein weiterer Performance-Tag mit Live-Events, Umtrunk und einer Kuratorinnenführung statt.
Zeit-Bilder. Erscheinungsformen zeitbasierter Kunst | bis 2.2.25 | Kunsthaus NRW Kornelimünster, Aachen | Eintritt frei | 02408 64 92
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