„Wie sieht es aus mit der Solidarität, die im Frühjahr – zu Beginn der Corona-Zeit – so gerne beschworen wurde? Leben wir dieses Ideal oder handelt es sich hier nur um ein gut platziertes Schlagwort der Medien?“ Die Choreografin Stephanie Thiersch gehört zu den Organisatorinnen des Festivals für performative Künste in Köln, das kurz und schlagkräftig den Namen „Urbäng!“ trägt und stets jene Fragen stellt, die in unserer Gesellschaft von brennender Aktualität sind. Während sich seit vielen Jahren die Auflösung der Kernfamilie vollzieht, war plötzlich wieder die Tragfähigkeit sozialer Beziehungen gefordert. Was passierte während der Krise in der Familie, der kleinsten Gemeinschaft unserer Gesellschaft? In der fulminanten Tanztheaterproduktion „La Macana – Pink Unicorns“ erzählen die Spanier Alexis Fernández und Paulo Fernández davon, was es heißt im Psychodrama von Vater und Sohn zu agieren. Erfahrung gegen vitales Ungestüm, so stellt sich der fruchtbare Zusammenprall der Generationen dar.
„Selbstverständlich werden alle Teilnehmer des Festivals auf Corona getestet“, betont Stephanie Thiersch, gleichwohl wird es viel diplomatischem Geschick bedürfen, um alle Gäste nach Köln zu bekommen. Aus Beirut sollen zum Beispiel die Fotografin Randa Mirza und der Musiker Waël Kodaih einreisen, um im Orangerie Theater ihre Collage aus Tarab-Klängen und alten Fotografien zu präsentieren, die eine uns unbekannte arabische Welt zeigen. Einen der Höhepunkte des Festivals könnte Helge Schmidts Recherche zum entfesselten Kapitalismus markieren, die sich mit den „Cum-Ex Papers“ beschäftigt. Dabei fällt auf, dass fast noch verblüffender als die Rekonstruktion der Gaunereien, mit denen Investoren und Banken in den vergangenen Jahren über Steuertricks die Sozialsystem des Deutschen Staates ausgeplündert haben, die kaltschnäuzigen Rechtfertigungen sind, mit denen sie ihre kriminelle Energie bemänteln. Dem Theaterprojekt wurden in Form einer Collage die Ergebnisse jahrelanger journalistischer Recherchen zur Verfügung gestellt. Die Bühne bewährt sich mit derartigen Produktionen als Ort der Analyse gesellschaftlicher Prozesse, wie es ihn in dieser Form in unserer medialen Landschaft ansonsten nicht gibt.
Aus Nordirland wird Oona Doherty erwartet, die in „Hope Hunt and the Ascention into Lazarus“ männliche Verhaltensklischees thematisiert. Ihr Tanzsolo wechselt die Perspektive, indem sie als Frau den Blick auf den Mann richtet und sich fragt, was ist maskulin und wie sieht das aus? Immerhin präsentieren sich schwere Jungs in der politischen Sound-Collage „Hard Boiled Wonderland – Wann wenn nicht jetzt?“. Der Nachwuchs der Kölner Musikszene verhandelt Klima, Fake News, Verschwörungstheorien und digitale Zukunftsplanung im Wechsel zwischen Rock, Folk, Jazz und Indie-Klängen zu einer gewagten Musikshow. Die Kraft der leisen Töne schlägt hingegen das Projekt „Sender unknown“ von Futur3 an, in dem die altmodische Kultur des Briefeschreibens als Kommunikationsform entdeckt wird, die unerwartete Nähe erzeugen kann. Die Kölner Theatermachen von Futur3 unterhielten einen Briefverkehr mit Menschen aus Kirgisien und der Südukraine, in denen man sich über das Glück, die Zukunft und den Kapitalismus austauschte. Vom 7. bis 10. Oktober sollen Garten und Theater der Orangerie rund um die Uhr mit Veranstaltungen des Festivals bespielt werden.
Urbäng – Festival für performative Künste | 7. - 10.10. | Orangerie Theater | www.freihandelszone.org
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