Im Grunde ist die Familie von Arda zerrüttet. Instabil, weil jeder verzweifelt auf der Suche nach seinem Platz im Leben ist. Jetzt liegt der 20-Jährige wegen eines Organversagens auf der Intensivstation, während seine alkoholabhängige Mutter und seine Schwester seit Ewigkeiten kein Wort mehr miteinander wechseln und trotzdem dazu gezwungen sind, sich jeden Tag gegenüberzustehen. Und der Vater? Ist weg, schon seit Jahren. Hat es in Deutschland nicht ausgehalten, mit dem er immer fremdelte und aus dem er floh, obwohl in der Heimat eine Gefängnisstrafe auf ihn wartete. Jetzt schreibt Arda ihm einen Abschiedsbrief, mit dem er seinen Vater zwingen will, die Geschichte der Familie anzuerkennen, die er verlassen hat. Diese Geschichte hat der Schriftsteller und Theaterautor Necati Öziri in seinem Debütroman „Vatermal“ erzählt – jetzt setzt Bassam Ghazi sie am Schauspiel Köln für die Bühne um.
Streng genommen wäre diese Transformation gar nicht notwendig gewesen, basiert „Vatermal“ doch seinerseits auf Öziris Theaterstück „Get Deutsch or Die Tryin“, das dieser 2017 für das Maxim-Gorki-Theater Berlin schrieb. „Ich habe in den vergangenen Jahren viel über das Stück nachgedacht“, erklärt Ghazi. „Letztlich war es mir aber weder scharf noch fokussiert genug. In der Romanform konzentriert sich Öziri ja ausschließlich auf die Geschichte von Arda, das finde ich als Grundlage für einen Theaterabend viel stringenter.“ So lässt Ghazi sein 16-köpfiges Laienensemble die Rückblenden des kranken Sohns in Szene setzen: die erste Liebe, die feste Clique, das Aufwachsen im Ruhrgebiet mit Mama und Aylin und einer Leerstelle, die eigentlich sein Papa füllen sollte und die doch lediglich Metin hieß.
Das allein reicht Ghazi aber nicht: „Mir war von Anfang an klar, dass ich auch die Biografien der Ensemble-Mitglieder einbauen wollte, weil Ardas Schicksal eben nicht singulär ist, sondern von vielen Menschen geteilt wird.“ Also hat er seine Schauspielenden ebenfalls Briefe an ihre abwesenden Väter schreiben lassen. Das Ergebnis? „Diese Texte haben eine unglaubliche Wucht“, betont der Regisseur. „Einen hat ein 14-Jähriger geschrieben – der zerreißt einem förmlich das Herz.“ Für viele wäre diese Niederschrift ein großes Bedürfnis gewesen, ein kathartisches Erlebnis. Die Aufführungen werden in dieser Bewältigungsstrategie der nächste Schritt sein. „Ich vertraue da ganz auf die Stärke des Romans“, sagt Ghazi. „Und auf die Ensembletexte.“
Vatermal | 7.2. 20 Uhr (P), 9.2. 19 Uhr, 14.2. 20 Uhr (mit anschließendem Nachgespräch), 19.2. 20 Uhr (Einführung: 19.30 Uhr) | Schauspiel Köln, Depot 2 | www.schauspiel.koeln
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Shakespeare im Metaverse
„Was ihr wollt“ am Schauspiel Köln
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Dunkle Faszination
Franz Kafkas „Der Prozess“ am Schauspiel Köln – Auftritt 02/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
Ein Martyrium der Erniedrigung
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/23
Ohne Opfer kein Krimi
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Prolog 12/23
Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater am Rhein 01/25
Endsieg für Ödipus
Elfriede Jelineks „Am Königsweg / Endsieg“ in Bonn – Prolog 01/25
„Es geht schlichtweg um alles“
Regisseur Marcus Krone und Schauspielerin Kristina Geßner über „Am höchsten Punkt“ in der Orangerie – Premiere 01/25
Ausweg im Schlaf
„Der Nabel der Welt“ in Köln – Theater am Rhein 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Schussbereite Romantik
„Der Reichsbürger“ in der Kölner Innenstadt – Auftritt 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Freude und Bedrückung
35. Vergabe der Kölner Tanz- und Theaterpreise in der SK Stiftung Kultur – Bühne 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
„Andere Realitäten schaffen“
Dramaturg Tim Mrosek über „Kaputt“ am Comedia Theater – Premiere 12/24