Ende des Ersten Weltkriegs geboren, wuchs Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) in einer zerrütteten Zeit auf. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, war er 15 Jahre alt. Er erlebte die Ausgrenzung von Juden und Andersdenkenden, die Vereinnahmung der deutschen humanistischen Musik und Literatur durch die Rassenideologie der Nazis sowie schließlich die Zerstörung der Heimatstadt im Bombenhagel. Diktatur und Zweiter Weltkrieg raubten ihm die besten Jahre. Als Vertreter der „Lost Generation“ setzte er sich fortan mit den erfahrenen Katastrophen auseinander. Während die jüngeren Nachkriegsavantgardisten Boulez, Nono und Stockhausen nach struktureller Reinheit strebten, knüpfte er an alte Ideale von Musik als Ausdruck, Klangrede, Botschaft und existentiellem Erfahrungsmedium an. Anlässlich Zimmermanns 100. Geburtstag spielt das Gürzenich-Orchester in der Spielzeit 2017/18 einige seiner Werke, darunter die 1951/52 entstandene „Sinfonie in einem Satz“ (zu erleben am 29, 30, 31.10. in der Kölner Philharmonie).
Das Stück ist ein schroffes Trümmer- und Kraftfeld, ungebärdig, expressionistisch, kantig, wüst und visionär, als wäre Gustav Mahlers einstündige 6. Sinfonie „Die Tragische“ auf eine Viertelstunde komprimiert. Nach schockartigem Aufschrei stürzt sich die Musik mit geballter Energie in eine wilde Flucht nach vorne. Unerbittlich voranhetzende Gewaltmärsche treiben im Wechsel mit unheilvoll brütender Stille einem katastrophischen Höhepunkt entgegen. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, voll Gewalt, Angst, Entsetzen – und für jedes Orchester ein Kraftakt. Nach der Uraufführung der Erstfassung durch das Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester bat der Komponist den Dirigenten Hans Rosbaud um Verständnis für die in Höchstlagen aufgellenden Bläser und wild hämmernden Schlagzeuger, indem er darauf verwies, „dass wir in einer Zeit leben, die vom apokalyptischen Sturm geschüttelt wird“.
Zimmermanns Auseinandersetzungen mit Krieg, Verfolgung, Holocaust und atomarer Bedrohung kulminierten in zwei seiner Hauptwerke. Seine in Köln uraufgeführte Oper „Die Soldaten“, in der Saison 2017/2018 auf dem Spielplan der Oper Köln (Premiere am 29.4.18), schildert das Schicksal der jungen Marie, die zum Vergewaltigungsopfer einer durch Drill und Kasernierung verrohten Soldateska wird. Ebenso weitet das „Requiem für einen jungen Dichter“ (1967-69) den Tod eines Einzelnen durch zahllose Musik- und Textzitate zum globalen Schreckensszenario einer vom Untergang bedrohten Menschheit. Die Schlussbitte dieser säkularen Totenmesse „dona nobis pacem“, „Herr gib uns Frieden“, mündet in einen Entsetzensschrei von Chor und Orchester.
Doch Zimmermann, der sich 1970 das Leben nahm, war nicht nur Prophet der Apokalypse. Neben erschütternden Bekenntniswerken, virtuosen Konzerten, Liedern und Kammermusik komponierte er auch für Film, Ballett, Theater, Hörspiel, Jazz-Combos und leichte Muse. In Bliesheim (heute ein Teil von Erftstadt) geboren, kam er früh mit Kirche, Kneipe, Kirmes, Tanz und Karneval in Berührung. Er selbst charakterisierte sich als „eine sehr rheinische Mischung von Mönch und Dionysos“. Ironisch-spielerische Humoresken sind die „Rheinischen Kirmestänze“ und die 1948 vom Gürzenich-Orchester uraufgeführte burleske Kantate „Lob der Torheit“ (15.5.18 Kölner Philharmonie) nach Goethe, in der „Witz, Ironie und gelegentlich derber Spaß“ den Ton angeben, um einen „Weg aus dem Dilemma unserer Tage“ zu finden.
Lange vor Sampling, Remix und Mashup montierte Zimmermann seine Ballettmusik „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ (zu erleben am 6/7/8. Mai 2018 in der Kölner Philharmonie) ausschließlich aus Fremdmaterial. Der Strudel an Zitaten von Bach, Beethoven, Strauss, Debussy und Kollegen an der Berliner Akademie der Künste kulminiert in einem sarkastischen „Marsch der Gehirnzermantschung“, eine Kombination aus Wagners „Walkürenritt“ und Berlioz´ „Gang zum Richtplatz“ mit dem hunderte Male wiederholten Zentralakkord von Stockhausens „Klavierstück IX“. Wie wenige andere Komponisten thematisierte Zimmermann die Verfügbarkeit von Musik aller Epochen, Sparten und Stilistiken. Seine Idee des Pluralismus brachte er in das Bild von der „Kugelgestalt der Zeit“. Denn alle Linien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft laufen im Bewusstsein der augenblicklich lebenden Menschen zusammen. Hier und jetzt: in uns!
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