Was ist eigentlich gegen bis zu 180.000 neue Jobs einzuwenden? Das wäre immerhin eine Senkung der aktuellen Arbeitslosenquote um ungefähr 0,4 Prozent. Oder gegen ein 5 Prozent höheres Pro-Kopf-Einkommen? Ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von rund 0,3 Prozent per anno in den nächsten 15 Jahren wäre auch nicht zu verachten – so jedenfalls die Berechnungen des ifo-Instituts. Doch die Wohlstandsmehrung stößt auf Widerstand. Wahrscheinlich, weil die Segnungen nicht wie Manna vom Himmel fallen würden, sondern vielmehr Resultat des derzeit geheim verhandelten „Transatlantischen Freihandels- und Investitionsabkommen“ (TTIP) zwischen EU und USA wären. Entgegen dieser Modellrechnung wird die öffentliche Debatte von Ängsten um Chlorhühnchen, Klon-Fleisch und Gen-Food beherrscht; oder von der befürchteten Senkung von Arbeitnehmer- und Sozialstandards; oder der bereits berüchtigten kommerziellen Schattenjustiz mittels derer zukünftig Konzerne Staaten, Länder und Kommunen auf Milliardensummen verklagen könnten.
Der Vertrag ist noch nicht ausformuliert. TTIP ist nicht mehr als ein Kürzel, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellen kann, weil die Verhandlungen im Geheimen stattfinden. Doch die Aufmerksamkeit, die es erregt, ist so groß wie bei kaum einem wirtschaftspolitischen Projekt der vergangenen Jahre. Für den 11. Oktober rufen NGOs in ganz Europa zu einem dezentralen Aktionstag gegen TTIP auf – hierzulande wird der Aufruf von „Attac Deutschland“ und dem Aktionsbündnis „TTIP Unfairhandelbar“ getragen. Bereits zur letzten Europawahl hatte die NGO „Campact“ rund 6,5 Millionen Handzettel als Wahlhilfe verteilt. Darauf wurden die Standpunkte der einzelnen Parteien zu TTIP knapp und griffig aufgeschlüsselt.
Auch der Deutsche Städtetag (DST) hat Sorgen im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen von TTIP. So pocht der DST darauf, dass „die nicht liberalisierten Bereiche“ der öffentlichen Daseinsvorsorge „explizit von den Verhandlungen ausgeschlossen“ werden sollen. Damit sind die öffentliche Wasserver- und Abwasserentsorgung, die Bereiche Abfall und ÖPNV, soziale Dienstleistungen sowie alle Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge im Kulturbereich gemeint. Nahrung erhalten diese Sorgen durch die Studie „TTIP vor Ort“ von Thomas Fritz, die er im Auftrag von Campact erstellt hat. Damit er nicht vollends im Nebel stochern musste, bediente er sich des ebenfalls noch geheimen Vertragstextes von CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement)– dem TTIP-Gegenstück zwischen der EU und Kanada – den die Tagesschau Mitte August veröffentlichte. CETA ist bereits ausverhandelt und harrt nur noch der Ratifizierung durch Europaparlament und Europarat.
Fritz bestätigt die Befürchtungen des DST, hinsichtlich der kommunalen Hoheitsrechte. Vor allem im Investitionsschutzabkommen sieht er eine reale Gefahr für die Städte. So könnten beispielsweise Umweltverordnungen bald Investitionshemmnisse sein. Was das bedeutet, hat die Stadt Hamburg bereits erfahren müssen. Beim Bau des Kohlekraftwerks Moorburg sah Vattenfall sein Investment durch eine Umweltverordnung gefährdet und klagte unter Berufung auf die Energiecharta auf 1,4 Milliarden Euro Schadensersatz. Der Streitfall wurde per Vergleich beigelegt. Hamburg verpflichtete sich, „eine modifizierte wasserrechtliche Erlaubnis“ zu erteilen. Kurz gesagt: Die politisch gewollte Umweltauflage wurde kassiert. Hamburg drückt, wie auch viele andere Städte, die Schuldenlast und kann das Risiko einer 1,4 Milliardenzahlung nicht tragen.
Doch auch öffentliche Ausgleichzahlungen für Krankenhäuser könnten von privaten Klinikkonzernen als Investitionshemmnis angesehen werden; Volkshochschulen mit ihrem öffentlich bezuschussten Bildungsangebot könnten privaten und wesentlich teureren Bildungsanbietern ein Dorn im Auge sein. Sozial-ökologische Reformen im kommunalen Beschaffungswesen stünden mit TTIP ebenfalls auf Kriegsfuß. Nicht selten ist die kommunale Auftragsvergabe beispielsweise an Tariftreue gekoppelt. Da Sozialstandards aber keinen besonderen Schutz bei den Verhandlungen genießen, lauern auch hier Klagen an allen Ecken und Enden.
Aus dieser Perspektive kämen die prognostizierten 180.000 Arbeitsplätze die Demokratie teuer zu stehen. Bei Entscheidungen die kommunale Daseinsvorsorge betreffend, wäre nicht mehr der politische Wille maßgeblich. Nein, maßgeblich wäre, ob die Entscheidung Anlass für eine Klage gäbe.
Quellen:
www.zeit.de/2014/10/freihandelsabkommen-europa-usa
www.staedtetag.de/fachinformationen/wirtschaft/068853/
http://blog.campact.de/wp-content/uploads/2014/09/Campact_TTIP_vor_Ort.pdf
www.tagesschau.de/wirtschaft/ceta-101.html
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Konzernmacht durch die Hintertür
40.000 tragen ihren Protest gegen TTIP und CETA auf die Straße – Spezial 09/16
„Diese Abkommen sind undemokratisch, unsozial, unökologisch“
Alexis Passadakis von Attac über TTIP, CETA und das Klimacamp bei Köln – Spezial 08/16
attac: Neoliberalismus ins Museum
Globalisierungskritiker deponieren Thatchers Handtasche im Forum NRW – Spezial 08/16
Zeit für die Ernährungswende
Der Kölner Ernährungsrat stemmt sich gegen falsche Trends – Spezial 03/16
CETA: Schrecken ohne Ende
Info-Veranstaltung zu Freihandelsabkommen in der Lutherkirche – Spezial 02/16
„Wir sind nicht gegen freien Handel – aber er muss transparent und fair sein“
Frank Immendorf von der Initiative „Kleine und mittelständische Unternehmen gegen TTIP“ – Thema 01/16 Gerecht Steuern
Maßgeschneiderter Schutz?
Regierung fordert Ausnahmen für Kultur in TTIP – Theater in NRW 11/15
Ein Nein zum Freihandelsabkommen
Europaweiter Aktionstag gegen TTIP auch in Köln – Thema 10/14 Freier Handel
„TTIP ist die Büchse der Pandora“
Boris Loheide (attac) zu den dramatischen Dimensionen des EU/USA-Handels- und Investitionsschutzabkommens (TTIP) – global, wie lokal – Thema 10/14 Freier Handel
Demokratie im Handel
Workshop zum transatlantischen Handelsabkommen TTIP am 16.7.
Menschenrechte feiern
Mit Leidenschaft workshoppen auf dem Kölner Menschenrechtsfestival am 13.7.
Zeit der neoliberalen Strippenzieher
Der Bühnenverein warnt vor dem Freihandelsabkommen TTIP – Theater in NRW 07/14
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 1: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen