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Foto: Marco Piecuch

Ambitionierte Fragen statt einfacher Lösungen

10. August 2021

Antirassistisches Theaterprojekt „Bitter (Sweet) Home“ – Bühne 08/21

„Ich weiß nicht, wo meine Geschichte anfängt. Wo ich reinen Gewissens ich bin“, diese Worte rahmen das Stück: gesprochen aus Lautsprechern, einstimmig und im Chor, gesprochen erst zuletzt auch auf der Bühne selbst, aus einem Körper, einer physischen Präsenz heraus.

Diese Eindeutigkeit des Körpers, die Klarheit darüber, wer von wo spricht, ist in „Gestern (Heute) Morgen“, das im Rahmen des Theaterprojektes „Bitter (Sweet) Home“ aufgeführt wird, keine Selbstverständlichkeit. Stimmen und Sätze überlagern sich, wandern aus dem Off auf die Bühne und wieder zurück, springen von Figur zu Figur.

So auch die Stimmlosigkeit, ein Motiv, das sich durch das Stück zieht. Darstellerin Karmela Shako greift sich an den Hals, zuckt, bringt fortan keinen Ton mehr heraus, stumm und verstört durchwandert sie den Bühnenraum, während die drei anderen Darsteller sich in wilden Vorwürfen gegenüber einander ergehen. Die drei stehen für die titelgebenden Zeitlichkeiten: Gestern (Naomi Bah), Morgen (Thi Le Thanh Ho) und Heute (Barış Ar), die im dunklen Bühnenraum erstmals als Körper existieren, atmen: „fühlt sich das geil an“. Inhaltlich assoziativ und aufbrausend im Tonfall geht es darum, was Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart füreinander und in Bezug auf eine Rolle bedeuten, die im Programmtext in Großbuchstaben geschrieben wird: „ICH“, gespielt von Karmela Shako.

Kollektive Kreativität

Wie sie vereinbar und miteinander versöhnbar sind, wird inmitten einer minimalistischen Bühnenausstattung – bestehend aus Spiegeln – ausgehandelt. Dabei geht es eindeutig nicht um einen linearen Zeitbegriff und höchstwahrscheinlich auch nicht um ein individualisiertes, einzelnes Ich.

Auch der Stücktext ist eine gemeinschaftliche Arbeit: Bernice Lysania Ekoula Akouala, Rosina Kaleab, Fatima Remli und Sarah Claire Wray diskutierten und schrieben miteinander in einem sogenannten Writers’ Room, in den auch Projektinitiatorin Julia-Huda Nahas sowie Dramaturgin Emel Aydoğdu eigene Texte einbrachten.

Das Konzept des Writers’ Rooms ist vor allem aus der amerikanischen Serien- und Filmproduktionen bekannt. Statt die Idee des einzelnen kreativen „Genies“ vorauszusetzen, das in der Abgeschiedenheit wie durch ein Wunder ein Kunstwerk hervorbringt, setzt der Writers’ Room auf kollektive Kreativität, um Narrative voranzutreiben und Figuren zu entwickeln.

Auch in anderer Hinsicht bricht diese Form der Stückentwicklung mit tradierten europäischen Vorstellungen von Kunst und Künstlern: die im Kollektiv Schreibenden sind weiblich und BPoC-Personen.* Eine antirassistische Haltung ist Grundlage des gesamten Projekts, das unter dem Titel „Bitter (Sweet) Home“ untersucht, wie rassistische Strukturen, die auch im Bühnenbereich existieren, aufgebrochen werden können, um ein Stück zu entwickeln, das sich tiefgehend – also auch abseits der Bühne, hinter dem Vorhang – mit Rassismus, Diskriminierung und Marginalisierung beschäftigt.

Schnittstelle von Kunst und Aktivismus

Statt also in Netflix-Manier in einem letzten Schritt „divers“ zu casten, eröffnet „Bitter (Sweet) Home“ einen Raum, in dem BPoC-Frauen von Anfang bis Ende für sich selbst sprechen und schreiben. Innerhalb weniger Monate entwickelten die sechs Autorinnen gemeinsam das Stück, das am 8. August in der Alten Feuerwache Premiere feierte.

Die vielfältigen Fragen, die in einem solchen Rahmen aufkommen, wurden parallel in einem ambitionierten Diskursprogramm öffentlich besprochen, die von Fatima Khan moderierten Gespräche sind weiterhin auf YouTube verfügbar. Die Autorinnen beschäftigen sich in unterschiedlichen Zusammensetzungen etwa mit dem Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache, Poesie und Prosa, aber auch mit eindeutig politischen Fragen: Was bedeutet Haltung für Narration? Für wen schreiben wir? Wen erreichen wir?

„Bitter (Sweet) Home“ bewegt sich an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus, aber: „Wir sind keine Antirassismus-Trainerinnen“, sagt Initiatorin Julia-Huda Nahas, selbst Regisseurin und Kulturpädagogin, „sondern möchten als Künstlerinnen verstanden werden.“ Entsprechend werden mehr Fragen gestellt als beantwortet und vor allem keine einfachen Lösungen angeboten – und vielleicht ist genau das, was Kunst ausmacht.

Gestern (Heute) Morgen | 10.8. Alte Feuerwache, 14.8. Odonien, je 19 Uhr | www.bittersweethome.de

* BPoC steht für „Black and People of Colour“. Der Begriff kommt aus dem amerikanischen Diskurs, wo es „BIPoC“ heißt, das I steht dabei für „Indigenous“, also Eingeborene.

Mia Hofner

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