Der Mensch lebt in gespannten Zeiten. Wir drehen uns nicht um die eigene Achse, sondern um die eigenen Risse. Risse im Kopf, im Herz und selbstverständlich in der Haut. Es ziehen sich die Freiheitsstrafen in den sorgsam zugeteilten Einzelzellen, bis neue Lücken im steinernen Meisterwerk der Unschuld aufbrechen. Neuer Raum für Einsen und Nullen, Input/Output, Ja/Nein. Aber nur für kurze Intervalle. Denn die Fluchtlöcher müssen zum Wohle und zur ästhetischen Beruhigung der verwirrten Gesellschaft gestopft, geglättet, schnellstmöglich wieder verschlossen werden. Die Gefahr einer übergreifenden Angst vor elementaren Wahrheiten wäre schlicht zu hoch. Unverantwortbar.
Auf diesen Gedanken beziehen sich vielleicht auch Jörg Fürst und sein A.Tonal.Theater-Ensemble: Die neue Inszenierung „Subcutis“ beginnt mit von einer flexiblen Leinwand eingeschlossenen Körpern, die nach draußen drängen. Ein erster Austausch zwischen den Phantomen hinter und vor der Bühne der Alten Feuerwache, dem in den nächsten 60 Minuten noch viele intensive Augenblicke folgen sollen. Wahrlich hautnah kommen sich Besucher:innen und Darsteller:innen in Fürsts multimedialem Stück, das sich vordergründig mit dem größten menschlichen Organ beschäftigt. „Subcutis“ ist zugleich Ballet, Pantomime, Konzert, Videoschau, Feier des Lebens, aufwühlendes Streitgespräch und damit natürlich Theater im besten Sinne. Dabei wird nicht nur die Tinte unter der Haut zum Kunstobjekt, auch Chips, mit denen Einkäufe bezahlt oder die Wohnungstür geöffnet werden, sind im höchsten Maße künstlich. Gut meint es der Fortschritt zudem mittels Präparaten, die schlaffes Gewebe wieder aufpumpen und den zu Unrecht unglücklich Gealterten ein paar Stunden mehr Unsterblichkeit anbieten.
Das generationenübergreifende Event mit Profischauspieler:innen, Laien sowie Musiker:innen vereinigt gegenwartsbezogene Konsumkritik, Utopien und Dystopien eines Daseins, das längst nicht mehr gott-, sondern menschengemacht ist. So reicht die Wirkmacht des Stücks weit über die Haut hinaus, die Knochen, Muskeln, Venen und andere Organe wie ein einstmals reines Brautkleid zugleich schützend und träumend umfasst. Als Auftakt eines mehrjährigen Projekts zeichnet „Subcutis“ vorsichtig erste Schnittstellen auf einen Körperatlas, der zum Entdecken einlädt.
Subcutis | 1., 2., 3.2. 20 Uhr, 4.2. 18 Uhr | Alte Feuerwache Köln | 0221 97 31 55 10
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Im Korsett weiblicher Codes
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Prolog 06/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Der Atem des Films
Das Festival „Edimotion“ holt die Monteure des Films ins Rampenlicht – Festival 10/23
Kunst und Leben des Michael Biel
„Abschied von der neuen Musik?“ in Köln – Klassik am Rhein 02/23
Authentisches Theater
„Hypocrites“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 01/23
Ambitionierte Fragen statt einfacher Lösungen
Antirassistisches Theaterprojekt „Bitter (Sweet) Home“ – Bühne 08/21
Alle inklusive
Festival „All In“ von Un-Label in der Alten Feuerwache – Festival 10/20
Fremd im eigenen Körper
Musiktheater „Jeder:Jederzeit“ von A.Tonal.Theater – Bühne 02/20
Die Todesliste der Braunkohle
„Verschwindende Orte“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 12/19
Der Blick von draußen
„Fremd 4.0“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 03/19
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24