Himbeeren sind eigentlich zarte, empfindliche Früchte. Sich ein ganzes Land daraus vorzustellen, aktiviert unsere surreal-psychodelische Fantasie. Das hat die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin nicht davon abgehalten, die hypertroph-konsumistische Warenwelt der BRD mit dem Begriff vom „Himbeerreich“ zu beschreiben. „Das Himbeerreich“ lautet auch der Titel des neuen Stücks von Dokumentarfilmer Andres Veiel. Es basiert auf Interviews mit etwa 25 älteren Bankern, allesamt entweder abgehalftert oder in der Warteschleife, die unter der Versicherung der Anonymität Rede und Antwort standen. Veiel hat daraus ein Stück destilliert, in dem fünf Männer und eine Frau aus der Innensicht über das Finanzsystem sprechen. Über seine Mechanismen, über Gier, den Zynismus, über Risiken, die der Staat deckt, in Kauf genommene Krisen. Gesprochen wird in Sätzen, in denen zynische Finanzplattitüden und Investmentsprech sich mit selbstverliebten Klagen paaren. Von Entlarvung kann man bei Veiels Stück kaum sprechen, eher einer narzisstischen Selbstdarstellung, deren Dokumentation für sich selbst steht und die das Theater im Bauturm zur Saisoneröffnung in der Inszenierung von Stefan Herrmann herausbringt.
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, meinte einst Hölderlin und blickt wahrscheinlich hoffnungsvollen Auges nach Bonn, wo das Theater zusammen mit dem Beethovenfest einen „Save the World“-Kongress ausrichtet. Mit dabei zahlreiche UN-Einrichtungen, darunter das UNFCCC, das UNCCD, das UNU oder UNU-EHS. Im Klartext: die Sekretariate für Klimaveränderung, für die Verhinderung von Wüstenbildung, das Umwelt-Institut, aber auch die Welthunger-Hilfe oder das Forum Internationale Wissenschaften der Uni Bonn. Geballte Wissenskompetenz, die wahrscheinlich mit Menetekeln nicht geizen wird. Damit bei so viel dystopischer Analyse das sinnliche Moment nicht ganz unter den Tisch fällt, haben sich die Wissenschaftler auch ein paar Künstler ins Boot geholt. Namen wie Folke Köberling oder Bernadette La Hengst, Patrick Wengenroth oder die fulminante Anna Mendelssohn, die sich vor drei Jahren mit „Cry Me a River“ den inneren und äußeren Klimakatastrophen gewidmet hat, sind dabei.
Eröffnet wird der Kongress allerdings quasi mit einem mehr als 400 Jahre alten menschlichen Katastrophenbericht: Alice Buddeberg inszeniert in den Kammerspielen Shakespeares acht Königsdramen. Eine bluttriefende Schlachtplatte voller Intrigen, Meuchelmorde und Kriege, die die beiden englischen Königshäuser Lancaster und York im 15. Jahrhundert angerichtet haben und die William Shakespeare dann in Dramen übersetzt hat. Anstatt Stücke wie „Richard III.“, „Heinrich IV.“ oder „Heinrich VI.“ an verteilten Abenden auf die Bühne zu bringen, verschneidet Buddeberg das Gemetzel zu einem Bürgerkriegs-Cuvée an zwei Abenden, zum Auftakt sogar an einem Abend. Ein Verfahren, das sich seit Luc Percevals legendärer „Schlachten“-Inszenierung 1997 zunehmender Beliebtheit erfreut und das einen verdichteten Blick in menschliche Abgründe erlaubt.
„Das Himbeerreich“ | R: Stefan Herrmann | 12.9.(P) 20 Uhr | Theater im Bauturm Köln | 0221 52 42 42
„Save the World“-Kongress | 3.10.-5.10. | Theater Bonn
„Die Königsdramen I + II“ | R: Alice Buddeberg | 3.10.(P) 16 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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