Künstler haben einen besonderen Blick für andere Künstler. Sie erleben in der Praxis, dass Kollegen für die gleichen Probleme bei der Arbeit mitunter ganz andere Lösungen als sie selbst finden. Svetlana Fourer schätzt die kreativen Köpfe des Trikster Theaters aus Moskau besonders. „Sie sind mir auf den Festivals immer wieder aufgefallen, weil sie einen eigenen Blick und eine Ästhetik haben, mit der sie mich überraschen“, erzählt sie. So wurde eine Kooperation geschmiedet, die ihre Finanzierung durch das Land Nordrhein-Westfalen, die Stadt Köln und private Geldgeber aus Russland erhielt. 2015 präsentiert das Svetlana Fourer Ensemble aus Köln Oscar Wildes „Das Gespenst von Canterville“ in Moskau. Schon jetzt wird produziert und Fourer plant eine Inszenierung, die mit vielen Theaterkonventionen bricht und die Themen Liebe, Verrat, Verlust und Tod von den Darstellern auf der Bühne wie in einer Performance verhandelt.
Derzeit ist sie Patin der russischen Produktion, die zum großen Teil mit Schauspielern aus dem Rheinland im Freies Werkstatt Theater in Köln realisiert wird. „Alltägliche Apokalypsen“ nennt das Regieduo Maria Litvinova und Vyacheslav Ignatov seine Kompilation aus Monologen und Interviews von Eugène Ionesco, zu der Bibiana Jimenez eine Choreographie entwarf. „Wir wollen zeigen, wie der Mensch geprägt, beeinflusst und reglementiert wird von den Lebenszusammenhängen, in denen er sich am Arbeitsplatz, in der Familie und in der Gesellschaft befindet“, erklärt Litvinova. Mit Ionecos Textmaterial ergibt sich daraus schnell ein Szenario, das humorvoll die Schicksalsdimension des modernen Menschen ausmisst.
Die Spezialität des Trikster Teams – das mit der „Goldenen Maske“ schon Russlands bedeutendsten Theaterpreis gewann – sind Schattenspiele. Virtuos spielen die Russen mit den Lichteffekten, die ungeahnte Räume entstehen lassen. Schon die Effekte, mit denen sie die Größenverhältnisse herstellen, beweisen erzählerische Kraft. Freilich zeigt sich auch, dass man einer anderen Tradition der Avantgarde entstammt. Die Russen verraten in ihren Szenenbildern noch den Einfluss des Konstruktivismus, zugleich arbeitet man stärker mit der Metapher als mit dem Realismus. Ethische Fragen treiben die Moskauer um. Zwängen wir den Menschen in den Bildern ein, die wir uns von ihm machen? Bleibt er im Dschungel der gesellschaftlichen Klischees noch sichtbar, und wie steht es um die individuelle Freiheit? Gibt es sie? Themen, die den Leuten in Putins Russland auf den Nägeln brennen, aber auch in unserem von den Informationsmedien beherrschten Alltag Aktualität besitzen.
Den Wechsel von Schauspiel zu Gesängen, Tanz und Komödie betreiben die Moskauer mit Methode. Der Enthusiasmus gibt der Inszenierung Tempo, die sich vom aktuellen Theatergeschmack Mitteleuropas doch deutlich unterscheidet. Man spürt in jedem Moment, dass die Russen mit ihrer Arbeit etwas bewegen wollen. Das ist erfrischend und verlangt der Truppe eine Vielfalt von Szenebildern ab, die dem Publikum nicht zuletzt einen kulinarischen Theatergenuss bietet.
„Alltägliche Apokalypsen“ | R: Maria Litvinova, Vyacheslav Ignatov | Mi 15.10.(P), Do 16.10. & Fr 17.10. 20 Uhr | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
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