Eben noch im Kerker, jetzt schon wieder Rock’n’Roll. Soweit sind wir noch nicht. Der Doktor Faustus, auf weiter Flur, auf blumigen Rasen gebettet, ermüdet, unruhig, schlafsuchend. Dämmerung. Geisterkreis, schwebend bewegt, anmutige kleine Gestalten. Regieanweisung im Alkoholnebel verflüchtigt. Denkste. Ermüdet stimmt, doch es ist die Bar irgendwo im Nirgendwo, wo der schwarze Engel wacht und der Suchende einen schweren Kopf hat. Weg mit dem Leichentuch. Gläser auf die Theke. Hier bin ich Gast, hier will ich‘s sein. Die Erde ward lebendig.Moritz Sostmann inszeniert im kleineren Depot des Schauspiels Köln Johann Wolfgang von Goethes Faust, der zweite Teil. Kürzte drastisch, wieder Puppen als Begleiter der Figuren oder Protagonisten selbst. Das Spiel erhält dadurch eine intensivere Schärfe, obgleich man Spieler und Puppe scharf unterscheiden kann, die feinen Bewegungen von Kopf und Extremitäten werden allerdings auch kongenial bewegt.
An fünf Akten hat Goethe jahrzehntelang gearbeitet, es wurde visionärer, in die Zukunft gerichteter als ihm wohl lieb war, und es war auch dramaturgisch noch nicht ein Endschliff möglich, also verhinderte der Geheimrat die Öffentlichkeit zu Lebzeiten. Nach meinem Tod die Sintflut, so weit geht die Kölner Inszenierung nicht, obwohl, wenn man es recht bedenkt, den Text könnte schon ein kleiner Tsunami verkürzt haben. Für die, die nicht am Nachmittag noch Teil I gesehen haben, macht die kleine aufreizende Barfrau schnell noch einen Abriss des Vergangenen, dann reißt Mephisto (Yvon Jansen) den Faust (Philipp Pleßmann) aus dem Alkoholnebel. Lustig spielt die Band, der Zigarettenautomat klemmt, der Kaiser hat einen neuen Narren (Mephisto) und kein Gold mehr, die rauschenden Feste treiben ihn in den Ruin, Tanz-Mariechen künden vom Papiergeld. Die Regie hastet in wilder Choreografie durch die Kaiserliche Pfalz. Die Bartender (Magda Lena Schlott, Franziska Rattay und Johannes Benecke) haben alle Hände voll zu tun, mit nachgießen und Puppen bewegen. Das mit dem Papiergeld klappt nicht, die Kaiserpuppe endet am Pfeiler-Kreuz.
Am Tresen treffen sich der alte Wagner, nun selbst Naturwissenschaftler und Kapazität mit geheimnisvoller Arbeit, und unerkannt Mephisto wieder, Wagner produziert gerade den künstlichen Menschen, aber es hapert noch etwas, nur die Lichterkette blinkt. Der Teufel bringt ihm das Leben, die Mystik den Homunkulus dann um, hetzen wir weiter durchs köstliche Geschehen mitten in der Hotelbar. III. Akt: Das ist der (siehe Sostmann-Lichtspur-Überschrift), „in dem Faust und Helena zusammenziehen, einen Sohn zeugen ihn heranwachsen und sterben sehen“. Kein Wunder, der Knabe rennt durchs offene Rolltor in die Realität und wird zielgerichtet von einem vorbeifahrenden Kleinwagen erlegt. Helena folgt im erregten Zustand dem irren Ikarus. Alle tot. My funny valentine. Weiter im Text. Ach ja, den schmollenden halbnackten Paris hatten sie natürlich in die Wüste gejagt. Soestmann und sein Team machen das klasse, fast muss ich an Grönemeyer in Berlin denken, aber das hier ist skurriler, abenteuerlicher. Am Schluss sitzen vier Faust-Puppen da, eine stirbt, die Band (in wechselnder Besetzung grandios!) intoniert Beachboys: „God Only knows“.
„Faust II“ | R: Moritz Sostmann | 7.5., 14.5. 20 Uhr, 3.6. 21 Uhr | Schauspiel Köln, Depot 2 | ausverkauft
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