Viele NachwuchskünstlerInnen werden diesen Moment nicht vergessen. Sie saßen in der Garderobe irgendeines kleinen Theaters der Republik, um auf ihren abendlichen Auftritt zu warten. Als plötzlich der Veranstalter, der sie gebucht hatte, den Kopf durch die Tür steckte und vier Worte wisperte: „Alexandra Kassen ist da!“ Oha. Binnen Sekunden wurden nochmal die Textbücher hervorgekramt, neue Schminke aufgetragen, nervös das Spiegelbild und die ersten Pointen überprüft. Die Kassen vom Kölner Senftöpfchen! Hier! Im Publikum!
Mit einer geradezu ungeheuerlichen Neugierde und Freude widmete sich Alexandra Kassen neuen Namen und Programmen, nahm sie persönlich in Augenschein, buchte sie dann zeitnah oder ließ ihnen lieber noch Zeit zur Entwicklung. Zynikern oder zu simpel gestrickten Klamauktruppen erteilte die stets mit einem Hut auftretende Prinzipalin auf Nachfrage dann auch eine Absage.
Nach dem frühen Tod ihres Mannes Fred 1972 steuerte Kassen das 1959 gegründete Kabarett- und Kleinkunsttheater Senftöpfchen durch manchen Sturm. Vor allem aber entdeckte sie zig KünstlerInnen, machte in ihrem Haus Hanns Dieter Hüsch und Konrad Beikircher groß, brachte erstmals Travestierevuen vor ein bürgerliches Publikum, konterkarierte kölsche Stimmungskanonen immer wieder mit bitterbösem, analytischem Politkabarett. Ihre bayerischen Wurzeln halfen dabei, immer weit über die Stadt- und Landesgrenzen zu blicken und trotzdem zu einer unverwechselbaren Kölner Marke zu werden. In der Domstadt kämpfte sie freundschaftlich mit der Comedia, den Machtwächtern und dem Atelier Theater, überregional hielt sie engen Kontakt zur von ihrem Mann mitgegründeten Münchner Lach- und Schießgesellschaft, zum Mainzer Unterhaus und dem Düsseldorfer Kom(m)ödchen.
Wenn man Kassen in der Innenstadt begegnete, war sie stets freundlich und offen. Sie war auch als Spaziergängerin ein Glücksfall für diese Stadt. Vor allem darf man nicht vergessen: Es ist eine große Gabe und auch Arbeit, seinem Publikum jeden Abend, über Jahre und Jahrzehnte, etwas qualitativ Hochwertiges zu präsentieren, nicht nur auf die Fernsehnasen zu setzen, sondern Künstler auch zu Experimenten und Wagnissen anzufeuern, und ein Theater nur mit Gastspielen zu führen. Kassens Neugier auf das Leben und ihr unterschütterlicher Glaube an die Kleinkunst, wo es eben reicht, dass eine Person mit Charme und Esprit laut über das Leben nachdenkt, haben ihr Senftöpfchen, erst auf der Pipinstraße, dann auf der Großen Neugasse, zu einer Institution gemacht. Man kann abends quasi blind eine Karte buchen und wird immer bestens bedient, unterhalten und auch irritiert.
Die von Kollegen und Freunden auch „Pony Hütchen“ genannte Frau wusste um die Bedeutung der Tragik für die Komödie. Sie trat leise auf und doch verbindlich, legte Wert auf gute Umgangsformen und Pünktlichkeit. Über allem aber schwebte ihre schier grenzenlose Neugier.
Es gehört zu den großen Wahrheiten des Daseins, dass wir unser Leben immer auch für andere leben, die es nicht konnten oder nicht mehr unter uns sind. Nun, wo Alexandra Kassen mit 94 Jahren verstorben ist, wird das Publikum Kassens Liebe für das Komische, das erst durch die Trauer und Tragik die richtige Würze bekommt, weitertragen. Jeden Abend in ihrem Theater. Und wer ein bisschen Einfühlungsvermögen besitzt, wird von seinem Platz aus spüren: „Alexandra Kassen ist da!“
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