Was ist das Wichtigste in einem Menschenleben? Ist es die Liebe? Ist sie die Säule, um die herum wir uns selbst unsere Lebensgeschichten erzählen? „Die einzige Geschichte“ nennt Julian Barnes seinen neuen Roman, wobei sein Erzähler davon ausgeht, dass es in jedem Leben nur eine wirklich prägende Liebe gibt. Schon auf dem Buchumschlag ist der gedruckte Titel durchgestrichen, ebenso wie die Kapitelüberschriften, und durch einen handgeschriebenen ersetzt. Hier will jemand Rechenschaft ablegen, nichts verklären und nicht in den Sumpf der Resignation gleiten, sondern sich so genau wie möglich an eine Liebe erinnern, die schicksalhafte Konsequenzen hatte. Dabei beginnt alles so spielerisch. Paul lernt die fast 30 Jahre ältere Susan bei einem Mixed Turnier im Tennisclub kennen. Der 19-Jährige und die Mutter zweier erwachsener Töchter – eine Frau mit Noblesse und wesentlich schärferem Verstand als der angehende Jurastudent – treffen sich ein ums andere Mal. Plötzlich wird mehr daraus, eine Affäre, die in Londons spießiger Vorstadtwelt Ende der Sechziger Jahre als Skandal empfunden wird.
Gerade dieses provokante Moment macht die Beziehung in den Augen des jungen Mannes so interessant. Susan lebt in einer zerrütteten Ehe, man ist geistreich, trinkt, schlägt sich, ist, kurz gesagt, wohlstandsverwahrlost. Unerschrocken wagen Paul und Susan das kaum Vorstellbare und ziehen in eine gemeinsame Wohnung. Daraufhin wächst sich die Liaison dann jedoch zu einer Tragödie der Alkoholsucht aus, deren Hölle Barnes detailliert zu beschreiben weiß.
Obwohl wir Paul als jungen Mann erleben, ist in die Erzählstimme die Erfahrung eines ganzen Lebens eingelassen, da hier ein alter Mann spricht. Zunächst erzählt Paul in der ersten Person. Aus dem „ich“ wird im zweiten Teil ein „du“, damit rückt er schon ein Stück weit von sich ab, bis er sich im letzten Teil als „er“ bezeichnet und sich damit vollkommen fremd wird. Julian Barnes, dessen größtes Talent sein plaudernder Erzählton war, legt mit diesem Roman sein düsterstes und bestes Buch vor. Eine Prosa, die gesättigt ist vom Wissen um die bittere Seite der Liebe, die sich zeigt, wenn der Zauber von Verliebtheit und Sex verflogen ist und Verzweiflung, Hass und Arztbesuche jede Nähe aufgefressen haben. „Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?“ fragt Julian Barnes im ersten Satz des Romans und schon da wird deutlich, dass diese Liebe etwas kostet.
Das Großartige an diesem Roman ist die Eleganz seiner Ökonomie, mit der Barnes eine Geschichte erzählt, die trotz ihres nackten Grauens eine Liebesgeschichte bleibt. Das Erzählen selbst, sein Wahrheitsgehalt, wird mit klug gesetzten Andeutungen und Zweifeln zum Thema. Dem Brenneisen der Liebe ist nicht zu entkommen, bei allem Schmerz weiß der Erzähler, dass sie der Nachweis dafür bleibt, gelebt zu haben.
Julian Barnes: Die einzige Geschichte | Deutsch von Gertraude Krueger | Kiepenheuer & Witsch | 304 S. | 22 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die schönen Verrückten
Markus Gasser über Liebe in berühmter Literatur – Textwelten 07/19
Lichtschalter anklicken
Warum wir das Bücherlesen verlernen – Textwelten 06/19
Eine begnadete Unverschämtheit
Der neu gegründete Kampa Verlag präsentiert Simenon – Textwelten 11/18
Erinnerung ohne Schmerz
Rachel Cusks dichte Prosa im Kleid spontaner Konversation – Textwelten 09/18
Kampf zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Peter Stamm beschreibt, wie man Opfer der eigenen Geschichte werden kann – Textwelten 05/18
Zwischen Herz und Verstand
Ruth Klüger bietet direkten Zugang zur die Welt der Lyrik – Textwelten 04/18
Unheimlich schönes Dorfleben
Ein Roman von Jon McGregor, funktioniert wie fünf Fernsehserien auf einmal – Textwelten 03/18
Demütigung
Ein Buch über den sozialen Tod und was man ihm entgegensetzen kann – Textwelten 11/17
Ein notwendiger Roman
Affinity Konar überrascht mit ihrem Meisterwerk „Mischling“ – Textwelten 09/17
Liebe am Mittag
Graham Swift zeigt uns, wie Literatur funktioniert – Textwelten 08/17
Über Nacht zum Begriff geworden
Köln erlangt Berühmtheit, nur anders als erhofft – Textwelten 03/16
Erzählen in der dunklen Kammer
Alexander Kluge liefert phänomenales Großprojekt – Textwelten 02/16
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
„Keine Angst vor einem Förderantrag!“
Gründungsmitglied André Patten über das zehnjährige Bestehen des Kölner Literaturvereins Land in Sicht – Interview 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24
Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24
Eine neue Tierethik
Maxi Obexer liest im Literaturhaus – Lesung 09/24
Vom Wert der Arbeit
8. Auftakt Festival am FWT – Lesung 09/24