Drei Masten, drei Rahen aus Gerüstbauteilen können eine Bühne nicht füllen, dennoch, genauso reckt sich das stehende Gut einsam über die Wellen, wenn die „Pequod“ im indischen Ozean den weißen Wal jagt. Genau den, der Hermann Melville und seinen gleichnamigen Roman berühmt machte, Moby Dick, das Böse an sich und doch nur ein Tier, das sich gegen seinen Tod wehrt – mit allen Mitteln und das breit auf über 900 epischen Seiten. Diesen Regalfüller hat Frank Heuel nun auf die Bretter des Walfang-Dreimasters aus Nantucket im BonnerTheater im Ballsaal inszeniert.
Wer nun Gregory Peck und seinen martialischen Wahn vor Augen hat, der dürfte enttäuscht sein, Heuel interessierte sich nur für die Psyche der Männer, die eingepfercht in eine hölzerne Kiste Monat für Monat ihrem blutigen Handwerk nachgehen, Stürme abreiten, in nassen Klamotten schlafen und von einem Getriebenen befehligt werden. Wann ist die schmale Grenze zum Irrsinn überschritten? Diese Frage trieb den Regisseur und seine acht Seelords um.
Als erstes kommt Ismael (Laila Nielsen) aufs Vordeck, hier wird die Biografie (Kapitel 21-35) Käpt’n Ahabs und sein Wesen durchleuchtet, klar dass das Klacken des Holzbeins die Männer unter dem Steuerdeck nicht schlafen lässt, aber ein Affenfaust-Takling über den Walknochen, um die Lautstärke zu minimieren? Ahab jagt den Matrosen unter Deck. Ismael Deniz taucht auf, als Ismael (klar, denn der Roman ist in Ich-Form geschrieben), er erzählt wie es zu dem Holzbein (Kapitel 36-44) gekommen ist. Spätestens hier wird dem Zuschauer klar, dass an diesem Abend keine wilden Dialoge durch den Theatersaal fegen werden, ihm wird klar, wie viele seemännischen Ausdrücke er nicht versteht, und ich hoffe, nach diesem Abend haben viele das Gefühl, den „ollen Schinken“ doch vielleicht einmal zu lesen. Ein szenisch unterstützter Leseabend ist „Moby Dick“ in Bonn aber beileibe nicht, die acht Mann auf des toten Manns Kiste illustrieren geschickt die Geschichte, ziehen in den Bann zwischen pullenden Walfängern und dem Verbot Ahabs, im Sturm den Großmast zu streichen, dass dabei auch mal der falsche Knoten auf den Belegnagel kommt, geschenkt. Sehr schön die Geräusche des Sturms und der Decksreinigung via Megaphon. Der Ukrainer Oleg Zhukov rezitiert seinen Part auf Russisch, die Leinwand, die auch die Kapitel anzeigt, übersetzt.
Mit zunehmender Dauer der Reise werden die Männer und Frauen in beigen Kostümen melancholischer, clever mixt Heuel die Romanabfolge, versucht das Wesen des Meeres, seiner Bewohner mit etwas eingefügter Historie (der weiße Wal im Rhein 1966) und Biologie zu ergründen, inklusive einem Elmsfeuer. Ahab ist bei ihm nicht der Racheengel in eigener Sache, am Ende ergeht er sich überzeugend minutenlang eher in Selbstmitleid (Kapitel 121-132) und kümmert sich um den armen Schiffsjungen Pip, der irre wurde, nachdem er drei Stunden lang einsam im Ozean trieb. Wie die Geschichte ausgeht, erzählt die Inszenierung dann glücklicherweise nicht mehr. Der letzte Satz ist der erste des Romans: „Nennt mich Ismael.“
„Moby Dick“ | R: Frank Heuel | derzeit in Sommerpause | Theater im Ballsaal, Bonn | 0228 979 01
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